Für die Generation Erasmus gehört der Besuch mindestens eines mehrtägigen Musikfestivals in den Sommerferien zum selbstverständlichen Pflichtprogramm. Was bei oberflächlicher Betrachtung wie hedonistischer Eskapismus aussieht, ist tatsächlich ein politisch interessantes Phänomen.

Über 90.000 Besucher täglich, mehr als 10.000 haupt- und ehrenamtlich tätige Helfer: Das Sziget-Festival, das jeden Sommer auf der Óbudai-Insel in Budapest stattfindet, hat selbst die Größe einer Stadt, es wäre die fünftgrößte Ungarns. Wie bei allen großen Musikfestivals muss eine entsprechende Infrastruktur temporär eingerichtet werden, ein Festivalveranstalter steht vor denselben Aufgaben, wie ein Lokalpolitiker. Doch zwei Festivals in Osteuropa denken diesen Gedanken einen entscheidenden Schritt weiter: Sowohl Sziget als auch „Kazantip“, welches ursprünglich auf der Krim stattfand, inszenieren sich als eigene Staaten.

Auf dessen Homepage wurde verkündet: „Dieses in sich geschlossene Areal ist nur durch einen Ein- und Ausgang zu betreten, respektive zu verlassen. Das Areal wird jedoch nicht einfach als Areal bezeichnet, sondern symbolisch als eigenständiges ‚Land‘ bzw. Republik ausgerufen. Dies mit einer eigenen Königin, einem eigenen Außenministerium (Kommunikation mit der unvollkommenen Außenwelt), mit eigenen Ministern (Minister für das Glück, für die Musik, für Tanz, für den Intellekt, für Visuelles und für Illusionen etc.) und mit eigenen Gesetzen. Auf Kazantip wird jeder, der einen Multipass erstanden hat, zum virtuellen Bürger mit all seinen Rechten und Pflichten. Bürger die gegen die Spielregeln (Konstitution) von Kazantip verstoßen, wird der Multipass abgenommen und sie werden in die unvollkommene Welt zurückgesandt. Jene, die wiederholt abgeschoben werden müssen, werden auf Lebzeiten vom Betreten des Partylandes ausgesperrt.“ Die deutsche Abschiebepraxis erscheint im Vergleich derzeit eher lasch, das deutsche Betäubungsmittelgesetz hingegen findet auf Kazantip ganz sicher keine Anwendung. Dass die Krim nun tatsächlich faktisch unabhängig von der Ukraine, weil russisch besetzt ist und das Festival deshalb nach Georgien und später die Türkei ausweichen musste, ist eine traurige Ironie der Geschichte.

Keine Bedenken beim Datenschutz

Einen Pass erhält der Besucher auch in Budapest, er wird dadurch zum „Szitizen“. Zusätzlich erhält er nachdem er sich ausgewiesen hat, ein Armband mit individuellem Barcode. Der soll künftig den medizinischen Helfern auf dem Areal im Notfall den Namen des Patienten, dessen Muttersprache, sowie Allergien, Unverträglichkeiten und chronische Erkrankungen mitteilen. Neben der Krankenstation, wo ausgebildete Ärzte die leichteren Fälle behandeln, patroullieren auf dem Gelände 130 ehrenamtliche Teams von je drei „Helpers“, Medizinstudenten, denen das die Arbeit entscheidend erleichtern könnte. Bedenken bezüglich des Datenschutzes wurden von keinem Besucher geäußert – man darf bezweifeln, dass der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán von deutschen Gästen ein ähnlicher Vertrauensvorschuss gewährt würde, wie den privaten Veranstaltern.

Das Festival, dessen Budget zu einem geringen Teil von weniger als einem Prozent vom Staat bezuschusst wird, versteht sich nicht als dezidiert politisch, aber der CEO Kádár Tamás erklärt im Gespräch mit den Salonkolumnisten: „Wir sind nicht politisch, aber haben seit der Gründung vor 25 Jahren Werte, für die wir stehen. Wenn die Politik um uns herum sich ändert, ist das für uns kein Grund, unsere Werte zu ändern. Einer davon ist natürlich Freiheit.“ Auf der „Island of Freedom“ gilt folglich Charles-Louis de Montesquieu: „Wenn es nicht unbedingt notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, ist es unbedingt notwendig, ein Gesetz nicht zu erlassen“, was sich z.B. darin äußert, dass man im Gegensatz zu anderen Festivals campen kann, wo man will. Und wer tief genug einatmet, merkt schnell, dass der Sicherheitsdienst auch hier andere Prioritäten hat, als gegen den Konsum weicher Drogen vorzugehen.

Erstaunlich sind statistische Fakten: Wo immer man 100.000 junge Leute aus den unterschiedlichsten Ländern auf relativ engem Raum versammelt und ihnen billiges Bier verkauft, eskalieren üblicherweise Missverständnisse. Doch Gewalt ist kein relevantes Problem in der friedlichen Atmosphäre eines Festivals, dessen von allen Teilnehmern geteilte Grundwerte Freiheit, Frieden und Respekt sind. „Sziget ist ein Musikfestival, deckt aber eben auch alle anderen Kunstformen ab. Das zieht eine bestimmte, angenehme Zielgruppe an.“, meint Kádár. Das zeigt sich auch in der Krankenstatistik, die erheblich weniger Krankheitsfälle ausweist als vergleichbar große ungarische Städte, trotz alkoholinduzierter Stürze und Verstauchungen.

Neben allen Spielarten der Kunst hat auch die gesellschaftliche Diskussion einen festen Platz: Seit 15 Jahren präsentieren sich mehr als 100 Nichtregierungsorganisationen in der „NGO-Island“. Einige sind dezidiert unpolitisch wie die „Yogis“, die die Gäste spiritueller Erleuchtung näherbringen wollen und die „Skeptiker“, die ein paar Meter weiter erklären, warum die Ideen der Yogis ziemlich vernunftfrei sind. Doch auch Greenpeace und das Europäische Parlament werben hier für ihre Themen. Neben der katholischen Kirche sind gleich zwei jüdische Organisationen prominent vertreten: Die örtliche Gemeinde, die am Freitagabend mit einem öffentlichen Kiddusch in den Sabbat geht, sowie zwei orthodoxe Juden der New Yorker „Lubawitscher“-Gemeinde, deren Angebot lautete: „Ask a Rabbi – for just 10 Fiorint“ (das entspricht 3 Eurocent). Kádár: „Auch das hat mit der Geschichte zu tun. Ungarn hatte ja eine große jüdische Bevölkerung vor dem Holocaust und glücklicherweise inzwischen immerhin wieder über 100.000. Die jüdische Gemeinde war von Anfang an beim NGO-Island dabei.“

Würde eine Jobbik-nahe Jugendorganisation sich dort darstellen wollen, dürfte sie? „Es gibt jedes Jahr eine Ausschreibung, auf die sich die NGOs bewerben können und wo sie sich und ihr Programm darstellen müssen. Wenn das nicht mit den Werten des Festivals vereinbar ist, dann bieten wir dem Bewerber natürlich keine Bühne.“

Und es rechnet sich auch noch

Dezidiert politisch war das Festival im Sommer 2016, denn zum 60jährigen Jubiläum des Ungarnaufstands 1956 wurde diesem auch seitens der Veranstalter offiziell gedacht: Ein riesiges Airbrushgemälde zeigte Szenen aus der Revolution und neben den Flaggen der Länder der teilnehmenden Künstler war auch eine ungarische Flagge mit Loch in der Mitte gehisst. Unten am Mast erklärt ein Poster, dass die Revolutionäre damals Hammer und Sichel aus der Flagge geschnitten hatten. Dieses und andere Exponate zur Revolution wurden in Zusammenarbeit mit dem „Haus des Terrors“ entworfen, einem Museum, dessen Thema die Herrschaft der faschistischen Pfeilkreuzer und der Kommunisten beschäftigt.

Auch auf Fragen der so oft bemühten „Sozialen Gerechtigkeit“ muss ein Festival Antworten finden. So sind 60 Euro für das Tagesticket in Ungarn eine Menge Geld, laut Weltbank lag das Pro-Kopf-BIP 2015 bei 11.670 Euro pro Jahr. Es gilt also, einen Spagat zu schaffen, um einerseits genügend hochpreisige Tickets an Briten, Deutsche, Schweizer, Österreicher zu verkaufen, um genügend attraktive und mithin teure Künstler buchen zu können, und andererseits die einheimische Jugend nicht leer ausgehen zu lassen. Um das zu gewährleisten, wird einerseits allerlei Luxus geboten: Von der VIP-Tribüne über den Bungee-Kran bis zur edlen Weinbar findet der Westeuropäer unzählige Möglichkeiten, Geld für Genuss und Spaß auszugeben. Andererseits ist eine günstige Basisversorgung gewährleistet: Wasser kann man in der Flasche an der Bar kaufen – oder sich nebenan im Plastikbecher gratis beim Roten Kreuz abholen. Will man nicht eine Stunde neben einer der Steckdosen stehen, die zur Verfügung stehen, dann zahlt man eben einen Euro, um sein Smartphone im Schließfach zu laden. Und wer sich die 60 Euro für das Ticket nicht leisten kann, kann sich als Volunteer bewerben, die Einsatzmöglichkeiten sind vielfältig: Man z.B. kann der „Stadtreinigung“, die von fünf privaten Firmen gestellt wird, assistieren und bekommt für 6 Stunden Arbeit ein Tagesticket. Ein anderer beliebter Einsatz für Freiwillige ist die Begleitung der Securitymitarbeiter – denn wer seine Freizeit im Fitnessstudio oder Boxring verbringt, sitzt eben nicht in der Berlitz-Sprachschule.

Bleibt die Frage nach dem Gemeinnutzen der ganzen Veranstaltung. Ein Gutachten der KPMG stellte fest, dass das Festival 2011 mit 50,87 Mio. Euro über direkte und indirekte Ausgaben zur ungarischen Wertschöpfung beitrug. Und anders als die Stadt Berlin, die nach den Loveparades auf den Kosten für den ziemlich ramponierten Tiergarten sitzen blieb, wird die Stadtgärtnerei in Budapest jedes Jahr mit 150.000 Euro vom Festival bezahlt – und die Bürger erhalten nach der Renaturierung eine Insel zurück, die in aller Regel schöner ist als vor dem Festival.

Dieser Artikel erschien zuerst in liberal, dem Magazin der Naumannstiftung.
Disclaimer: Der Autor besuchte das Sziget-Festival 2017 gratis als akkreditierter Journalist.