Auf einmal wachen alle auf. Wieso aber haben sie so lange geschlafen? Und vor allem: Was haben sie geträumt?

Während Ukrainer gegen die russische Armee um ihr Leben, ihre Freiheit, Souveränität und Würde kämpfen, erwacht Deutschland aus einem langen Schlaf. Es reibt sich die Augen und versteht nicht, warum die ganzen schönen Worte und Unterlassungen der Vergangenheit keine Wirkung mehr entfalten. Stell Dir vor, es ist Krieg in Europa – und das wirtschaftlich stärkste und bevölkerungsreichste Land der EU muss erst einmal die beliebte Zeitgeistfrage stellen: Was macht das alles mit mir? 

Zunächst einmal hat die Realität den Deutschen das schöne Selbstbild gestohlen, dass wir dank Merkel immer das Richtige tun und die Führerin der freien Welt sind. Wir müssen feststellen, dass die vergangenen Jahre gar nicht so gut, schlau und vorausschauend waren, wie es oft dargestellt wurde. Da wurde gar nicht so sehr vom Ende her gedacht, wie man uns immer verkauft hat. Selbstverständlich kann kein Politiker – und auch keine Politikerin – alles vorhersehen. Die Weltpolitik ist voller Fallgruben, die Triebkräfte sind unberechenbar. Aber dessen eingedenk kann man sich auf die Tatsache, dass es Unwägbarkeiten und Fährnisse gibt, vorbereiten. Schließlich gibt es dafür doch den Staat. Oder?

REDUZIERTE STAATLICHKEIT

Dass wir nicht bei einem „Ende der Geschichte“ angekommen sind, wissen wir spätestens seit 2001. Das ist auch schon über zwanzig Jahre her. Immerhin haben wir in den Jahren zusammen mit anderen Staaten versucht, in Afghanistan eine Sicherheitsstruktur zu schaffen, in der ein halbwegs demokratischer Staat entstehen und existieren kann. Dieses „State Building“ ist allerdings gescheitert. Aber der Versuch ist insofern auch interessant, weil zur gleichen Zeit die Sicherheitsinfrastruktur in Deutschland geschwächt wurde. Und ob sich das nun nachhaltig ändert, bleibt abzuwarten. Der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bundeshaushalt für 2022 ist zunächst einmal gesunken. Und das grundsätzliche Problem in Deutschland bleibt bestehen: die Tendenz zu einer reduzierten Staatlichkeit. 

Denn es wurde Folgendes lange Zeit vergessen – und zwar nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch von der politischen Elite: dass Freiheit, Wohlstand und auch moralisches Handeln ideelle wie materielle Voraussetzungen haben. 

Eine dieser Voraussetzungen ist „Sicherheit“. Das umfasst nicht nur die äußere Sicherheit, sondern auch die innere sowie die Katastrophen- und die Versorgungssicherheit. Über viele Jahre ist ja von Bund und Bundesländern auch bei der Polizei gespart worden, obwohl durchlässige Grenzen, Globalisierung, Cyberkriminalität, Islamismus, politischer Links- und vor allem Rechts-Extremismus, organisierte Kriminalität, schwindender gesellschaftlicher Zusammenhalt anderes erfordern. Erst seit kurzem hat sich das verändert, aber die Aufholinvestitionen und guten Absichten haben das notwendige Niveau noch nicht erreicht und werden vielleicht wegen der Versäumnisse sehr lange den Erfordernissen hinterherhinken. Wie sehr die staatlichen Institutionen vernachlässigt wurden, hat man auch in der Pandemie und bei der Katastrophe im Ahrtal gesehen: Gesundheitsämter funktionieren nur eingeschränkt, sind nicht auf dem neuesten technischen Stand, die Kommunikation im Katastrophenfall funktioniert nicht, die Sirenen bleiben gleich beim ersten Test stumm. Der deutsche Staat läuft also schon seit geraumer Zeit den Krisen und Katastrophen hinterher. Am schlimmsten aber ist die Selbsttäuschung, die er schon lange pflegt. Woran liegt das?

EIN TRAUMTÄNZERSTAAT

Zunächst ist da die nun schon sehr lange währende Fehleinschätzung (gerade der SPD), es gäbe keine rechte Feindschaft von außen, die den deutschen Pazifismus mit seinen Scheckbüchern und sehr sonderbaren Rüstungsexportregeln tangieren könnte. Außerdem möge doch der Staat streng Diät halten, denn er stehe sonst der Selbstentfaltung der Gesellschaft und der Selbstverantwortung des Einzelnen im Wege (FDP). Viel wichtiger sei es doch auch, den Staat als Erzieher des Volkes zu nutzen, um alle auf den innerfriedlichen Pfad der Tugend zu führen (Grüne). Und solange ideologisch Windstille herrsche, könne man sich der Pflege der schwarzen Null und der endlosen, dysfunktionalen Reformen der Bundeswehr widmen (CDU/CSU). So ist über die Jahre ein Traumtänzerstaat ohne republikanisches Ethos entstanden, der Freiheit und Sicherheit für selbstverständlich hält und sich bei Waffenlieferungen nicht die Mühe macht, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden – als wäre diese Differenzierung etwas, das einer besseren und gerechteren Welt im Wege stünde. Es ist wirklich eine fatale Illusion, es wäre eine noble, rationale und moralische Haltung, wenn man sich aus bestimmten Konflikten raushielte – und so dem Recht des Stärkeren geradezu völkerrechtswidrig wieder zum Durchbruch verhilft.

Diese ganz eigene deutsche Form weltanschaulicher Neutralität fußt immer noch auf einem veritablen Antiamerikanismus: Man gehört zwar zum Westen, aber das ökonomisch potente, künstlerisch kreative, hoch diverse und doch rassistische, neoliberale, also sehr widersprüchliche Amerika ist uns fremd, weil wir moralische Eindeutigkeit vorziehen. Dieses Überlegenheitsgefühl gegenüber dem transatlantischen Partner wird im Moment durch die große Gemeinsamkeit und Entschlossenheit gegenüber Putin verdeckt. Ich traue diesem Haltungswechsel aber nicht so sehr. Da tut es mir gut, dass ich kürzlich eine E-Mail von einer Freundin aus den USA bekam. Als Schwarze, Lesbe, Mutter, Sozialarbeiterin und ehemalige Soldatin ist sie oft im Hader mit dem eigenen Land. Nach Putins Kriegserklärung gegen die Ukraine hat sie mir aber gleich ein paar aufmunternde Worte geschickt: Ihr Neffe fliege einen Stealth-Bomber, der könnte ja mal rüber kommen, zur moralischen Aufrüstung und zur Unterstützung. Ja, das hat mir irgendwie gut getan.