Der Offene Brief von Alice Schwarzer, Dieter Nuhr und anderen sagt wenig zur Ukraine aus. Dafür ist er ein Zeitdokument der niederträchtigen deutschen Selbstbezogenheit

Es sind schwere und unsichere Zeiten: In Europa herrscht wieder Krieg. Da beruhigt es doch ungemein, dass auf manche Dinge selbst jetzt noch Verlass ist, so wie etwa auf den tief verwurzelten deutschen Drang, sich in Zeiten schwerster internationaler Krisen in pseudomoralischer Nabelschau zu ergehen.

Das klingt unschön, aber freundlichere Worte wären deplatziert für das Konvolut, mit dem 28 „Intellektuelle und KünstlerInnen“ heute an die Öffentlichkeit gegangen sind und in dem sie all das fordern, das deutsche Intellektuelle und KünstlerInnen nun einmal so fordern, wenn der Tag auf G endet oder Mittwoch ist: Waffenstillstände, Besonnenheit, keine Lieferung (weiterer) schwerer Waffen und natürlich: keinen 3. (sic) Weltkrieg.

Im Text geht es zwar vordringlich um die Ukraine und um Russland, aber in seiner als Verantwortungsbewusstsein getarnten feigen Menschenverachtung ist er eigentlich austauschbar. Redaktionelle Anpassungen genügen, und man hätte ihn genauso gut zum Jemenkrieg oder zum Kampf gegen den IS publizieren können. Die zentrale Frage, zu deren Beantwortung solche Pamphlete in Deutschland immer wieder in Umlauf gebracht werden, ist am Ende schließlich stets die gleiche: Alles furchtbar, aber was können wir tun, damit uns nichts passiert?

Dabei entwickelt die deutsche Volksseele, die in diesem Fall von intellektuellen Schwergewichten wie Reinhard Mey oder Martin Walser und anerkannten Verteidigungsexperten wie Dieter Nuhr repräsentiert wird, eine geradezu quirlige Kreativität. So, wie auch der Kanzler in den vergangenen Wochen nie um eine Ausrede verlegen war, warum diese oder jene Waffengattung nicht geliefert werden konnte und Deutschland im westlichen Bündnis von Alleingängern umzingelt war, haben auch Antje Vollmer, Alice Schwarzer, Lars Eidinger und Co. eine klare Vorstellung davon, was jetzt zu tun und zu lassen ist. 

Käßmann-Ehrenpreis

Sie teilen zwar großzügig „das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts“, ja sogar die „Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen“. Diese Pflicht wird aber gleich durch die Feststellung eingeschränkt, dass sie ihre „Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik“ findet – ein heißer Kandidat für den Margot-Käßmann-Ehrenpreis für den verquastesten Nullsatz.

Um sich mit unverändert nur zwei Händen angesichts der russischen Verbrechen so konsequent Augen und Ohren zuhalten zu müssen, braucht es, no pun intended, im moralischen Ringen schon die nukleare Option. Schließlich gehe „die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt“ auch, wenn nicht vor allem diejenigen an, die dem ursprünglichen Aggressor „sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern“. Übersetzung: Wenn wir mit Gepard-Panzern tote Zivilisten im Donbass verhindern – welche andere Wahl hat Putin dann noch als das atomare Armageddon? „Gerade der Regierungschef von Deutschland“ – wer sonst? – sollte deshalb darauf hinwirken, „dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.“ Immerhin hatten „Sie (also Scholz) bisher so genau die Risiken bedacht“.

Hier von einer Geringschätzung des Leids der Ukraine und einer Verachtung ihrer Notlage zu sprechen, geht trotz der klaren Sprache des Offenen Briefs vermutlich in die Irre. Man muss den Unterzeichnern nicht eine moralische Verkommenheit unterstellen, wie die Bemerkung, „selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht [zum menschlichen Leid] irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis“, sie nahezulegen scheint.

Öffentliche Therapie

Der vorliegende Text muss keine ekelhafte Unmenschlichkeit sein, wenn man ihn nicht als politische Forderung liest, sondern als die öffentliche Therapiesitzung, die er vermutlich ist. Seine Verfasser denken an den toten Kindern und hungernden Zivilisten in der Ukraine vorbei, weil sie unwillig oder unfähig sind, sich vorzustellen, dass es in diesem Konflikt nicht im Kern um Deutschland geht. Man kann da noch so viel vom Dritten Weltkrieg faseln, vom „europäischen Ansatz der gemeinsamen Vielfalt“ und sogar vom Klimawandel: Am Ende geht es doch eigentlich um uns, um „unsere historische Verantwortung“, darum, dass der Irre in Moskau nicht böse auf uns wird und darum, dass die Welt – sprich: Deutschland – nicht in den Krieg hineingezogen wird. Dazu stünde schließlich selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis. 

Es ist das große Glück unserer Zeit, dass solch eine Veröffentlichung angesichts der nicht zu übersehenden Wahrheit des unmenschlichen Krieges, den Russland, nur Russland und einzig Russland aus freien Stücken vom Zaun gebrochen hat, wie ein Museumsstück wirkt. Die übergeordnete Frage, warum die politische Meinung von Martin Walser und Juli Zeh besonders wertvoll sein sollte und was durch solche Peinlichkeiten gewonnen ist, muss die liberale Demokratie indes erst noch beantworten.