Buchenwald: Woran sich zu erinnern lohnt
Die europäische Geschichte ist ein Schatz, der behütet und bewahrt werden muss. Sich zu erinnern an das, was war, ist Aufgabe von möglichst objektiver Geschichtsschreibung. Demagogen wie AfD-Mann Björn Höcke wollen das nicht begreifen.
Good cop, bad cop: auf der einen Seite der schrill provozierende thüringische AfD-Chef Björn Höcke mit seinen Hass-Reden gegen die „dämliche Bewältigungskultur“ – auf der anderen Seite, quasi als Tandem, die restliche AfD-Führungsmannschaft, die angeblich nur „die einseitige Erinnerungskultur“ (Jörg Meuthen) abschaffen will.
Lasse man sich jedoch nicht täuschen und blicke gleichzeitig über den deutschen Tellerrand: Die Delegitimierung des europäischen Gedächtnisses – eines der wertvollsten Schätze unseres alten, hochreflexiven Kontinents – ist in vollem Gange, und Demokraten sollten sich bewusst machen, was es jetzt alles zu verteidigen gilt.
In den Worten des ungarischen Schriftstellers György Konrád: „Die gesamte europäische Geschichte, die zusehends Allgemeingut geworden ist, einem jeden zugänglich machen, ohne die Verpflichtung nationaler oder anderer Befangenheiten.“
Die von interessierter Seite nun immer lauter herausgeblaffte Behauptung, Deutschland fokussiere sein Gedenken „nur“ auf den Holocaust und werde von anderen klein gehalten, sollte deshalb nicht etwa defensiv relativiert, sondern als dreiste Lüge kenntlich gemacht werden.
Höcke auszuladen war richtig
Die Gedenkstätte Buchenwald hat jedenfalls gut daran getan, einen Björn Höcke auszuladen. Denn gerade anhand der dortigen Wissensvermittlung lässt sich studieren, in welch skrupulöser und komplexer Weise sich das seit 1990 wiedervereinigte Deutschland seiner Geschichte stellt.
Nicht zufällig waren es in den Jahren vor Höckes Hetze diverse PDS/Linke-Funktionäre, die Buchenwalds Stiftungsdirektor Volkhard Knigge auf ähnlich demagogische Weise angegangen waren.
Was den Postkommunisten missfiel und was die Neo-Rechten bis heute wider besseres Wissen leugnen: In Buchenwald ist sowohl die Geschichte des Nazi-KZ wie auch jene des nachfolgenden stalinistischen Straflagers dokumentiert – ohne das eine gegen das andere aufzurechnen.
Europäische Intellektuelle wie der ehemalige Buchenwald-Häftling und spätere Anti-Marxist Jorge Semprun haben immer wieder das Existenzielle dieser Art der Erinnerungskultur betont – ein Gedächtnis, das sich nicht an einem vage humanistischen „Nie wieder“ berauscht, sondern ein Sensorium für Gefährdungen entwickelt. Besuchergruppen aus aller Welt beschreiben und würdigen genau das in ihren zahlreichen Kommentaren.
Wenn man der aktuellen deutschen Beschäftigung mit der Nazi-Zeit etwas vorwerfen kann, dann lediglich eine gewisse Art gut gelaunter Forschheit: Seht her, wir sind auch Weltmeister im Erinnern. Das wäre zu diskutieren, aber gewiss nicht die Mär vom bis heute eingeschüchterten deutschen Volk, dem nun AfD-Politiker unbedingt ein neues Selbstbewusstsein bringen müssten.
In Ostdeutschland werden die kommunistischen Verbrechen nicht vergessen
Denn wie sähe ein solches wohl aus, wo diese Leute doch kein Hehl aus ihrer Sympathie für jenen KGB-Putin machen, der einst von mutigen Dresdnern aus Deutschland herausdemonstriert worden war? Betrifft womöglich die fortwährende Polemik gegen den „kollektiven Schuldkomplex“ (Jörg Meuthen) auch die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und ihrer Kollaborations-Aspekte?
Tatsache ist, das nirgendwo im ehemals sowjetischen Machtbereich der kommunistischen Verbrechen so eindringlich gedacht wird wie in den neuen Bundesländern, in Schul-Projekten, Grenz-Museen oder in Gedenkstätten wie dem ehemaligen Ostberliner Stasigefängnis Hohenschönhausen.
Soll nun auch dem die Förderung verweigert werden? Es wäre deckungsgleich mit der „Wir müssen endlich auch das Positive sehen“-Rhetorik altlinker DDR-Verharmloser.
Unfreiwillig komisch bei alldem: die Banausenhaftigkeit der sich so „bürgerlich-besorgt“ gebenden Kritikaster (ganz zu schweigen vom häufig lamentablen Deutsch in den Facebook-Postings und Leserkommentaren der aufgeputschten Fußtruppen).
Ist unser Volk tatsächlich als eines zu beschreiben, dem, wie Alexander Gauland es tut, „das Rückgrat gebrochen“ wurde? Aus welchem Parallel-Universum kommen solche Sprüche?
Hat denn von diesen Leuten noch keiner staunend im Naumburger Dom gestanden, hat die unzähligen liebevoll gestalteten (und nicht zuletzt Dank EU-Fördergeldern auf den neuesten Stand gebrachten) Heimatmuseen zwischen Nordsee und Bodensee durchstreift, den gegenwärtigen medialen Luther-Boom bemerkt – oder sich vielleicht einmal Hagen Schulzes und Etienne Francois‘ Monumentalwerk „Deutsche Erinnerungsorte“ zur Lektüre vorgenommen?
Ein Blick nach Frankreich und Osteuropa
Diese intellektuelle Karthografierung war inspiriert vom französischen Historiker Pierre Nora, der seit den achtziger Jahren „Erinnerungsorte Frankreichs“ wiederentdeckte – mit Genauigkeit und ohne jeden ideologischen Furor.
Apropos: Das gleiche Lügen-Märchen von der vermeintlich „einseitigen Erinnerung“ wird nun auch jenseits des Rheins erzählt, ein „la France d’abord“ (Frankreich zuerst), so dass man sich fragt, wann Frauke Petrys neue Bundesgenossin Marine Le Pen nun auch das Straßburger Stadtgedächtnis als „zu germanophil“ empfinden wird. Was hier unter Attacke steht, ist nicht zuvörderst das verhasste „Monstrum EU“, sondern die europäische Erinnerung als solche, deren Verzahnung aufgebrochen werden soll.
Die Summe neo-nationalistischer, in Ressentiments und Revanche wurzelnder Narrative aber stärkt mitnichten ein „Europa der Vaterländer“, sondern werkelt an einem Kontinent, in dem „monologische Erinnerung“ (Aleida Assmann) das gemeinsame Erbe verneint und stattdessen eine Gereiztheit wieder auferstehen lässt, deren Konsequenzen wir uns noch gar nicht vorstellen können.
Was etwa, würde Orbán-Ungarn in Zukunft noch hysterischer auf die Erinnerung an „die Schande von Trianon 1920“ rekurrieren und würden die in der EU bislang domestizierten Balkan-Staaten ihre alten Händel erneut zum Zentrum ihrer Identität machen? Pandoras Box wäre ein harmloses Perlenkästchen gegen diesen Albtraum. Ihn nicht real werden zu lassen, ist die Aufgabe der Stunde.
Noch ist dieser Kampf nicht verloren – auch wenn die nationalkonservative polnische Regierung gerade den Gründungsdirektor des soeben in Danzig eröffneten Museums des Zweiten Weltkriegs geschasst hat, da dessen historische Kontextualisierung missfiel.
Dass Tschechiens streit- und trunksüchtiger Präsident Zeman das Gegenteil Václav Havels ist und auf die langjährige gute Zusammenarbeit zwischen tschechischen und deutschen Historikern pfeift, ist bekannt. Indes: Dieses Jahr soll in München das Sudetendeutsche Museum eröffnet werden, in dessen Beirat Experten aus beiden Ländern sitzen.
Und in Brüssel entsteht ein Europa-Museum – unter wissenschaftlicher Leitung des 1973 aus Polen emigrierten Historikers Krzysztof Pomian, eines Weggefährten von Leszek Kolakowski. Sie alle arbeiten am konkreten Friedenswerk historischer Verknüpfung. Stehen wir ihnen zur Seite, anstatt uns wegzuducken, wenn die Lügenlawine rollt.