Freiheitsbeschränkungen, soziale Isolation und eine brachliegende Wirtschaft: Es liegt auf der Hand, dass die Bevölkerung durch die Corona-Krise verunsichert ist und sich deswegen in obskure Verhaltensweisen verstrickt. Manche sehnen sich die Katastrophe aber regelrecht herbei – und das nicht aus den edelsten Motiven.

In der Krise neige der Bürger zu autoritärem Verhalten, schrieb der Philosoph Philipp Hübl vor Kurzem in der „Zeit“. Menschen, die ihre Umwelt etwa durch knappe Lebensmittel oder Krankheiten als bedrohlich wahrnähmen, so heißt es dort, tendierten auch zu einem „autoritären Reflex“ – und sehnten sich nach Sicherheit in der Form eines starken Führers. 

Anders gesprochen: Je mehr das System versagt und die Bürger verängstigt sind, desto mehr halten sich die Menschen an autoritären Instanzen, Regeln und Pflichten fest.

Es ist erstaunlich, wie stark dieser Reflex gerade greift. 

Im Moment braucht es gar keine Polizisten mehr, die den Bürgern die neuen Kontaktbeschränkungen und Ausgangsverbote mit Hilfe von Bussgeldern einbläuen, weil sich die Menschen gegenseitig kontrollieren: So wird auf der Straße und im Supermarkt gezischt und gepöbelt, wenn sich jemand für einen Moment nicht an die von der Regierung verordneten Etiketten hält oder sich zu viel Klopapier in den Einkaufswagen lädt. In Berlin hat sich indes ein neues Denunziantentum entwickelt: Menschen, die andere Menschen in der Öffentlichkeit beobachten und mögliche Verstöße dann ans Ordnungsamt melden.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich war es sinnvoll, soziale Kontakte einzuschränken und einen Lockdown einzuführen, um Menschenleben zu retten. 

Versagen auf ganzer Linie

Dass es aber überhaupt so weit kommen konnte, ist nicht die Schuld der Bürger, die jetzt unter der Isolation und dem Lockdown leiden, sondern das Versagen des Staates. Und der hat – wenn er denn einmal stark sein muss – seine wichtigste Aufgabe verfehlt: Die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen.

Das Bewusstsein dieses Versagens scheint in der Krise komplett unterzugehen. Stattdessen stellen Politik und viele Medien die Situation als einen unerwarteten Schicksalsschlag dar – als eine fast schon gottgegebene Naturkatastrophe, die den Staat derart hilflos zurücklässt, dass jede weitere autoritäre Maßnahme als ein notwendiges Übel akzeptiert werden muss.

Das ist Unsinn: Deutschland hätte sich auf den neuartigen Coronavirus durchaus vorbereiten können. So wurde im Jahr 2007 in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut (RKI) und verschiedenen Bundesressorts die Katastrophenschutzübung „Lükex 7“ durchgeführt. Das Ziel: Der Staat sollte sich durch ein fiktives Planspiel auf den Ausbruch einer weltweiten Influenza-Epidemie vorbereiten. „Wir gehen davon aus, dass diese Pandemie früher oder später kommt“, erklärte der Chef des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz damals der Süddeutschen Zeitung.

Und das war nicht die einzige Warnung. Im Jahr 2012 spielte das RKI erneut den Ernstfall durch und fertigte für die Bundesregierung eine Risikoeinschätzung über – surprise! – einen asiatischen Coronavirus an, der Deutschland in eine verheerende Krise stürzen könnte. Das dort beschriebene Worst-Case-Szenario weist auf genau die Probleme hin, mit denen sich die Regierung jetzt herumschlägt: Überlastung des Gesundheitsbereiches, Mangel an Medizinprodukten, Schutzausrüstungen und Desinfektionsmittel sowie fatale Einbußen in der Wirtschaft.

Und noch immer gelingt es der Bundesregierung nicht, angemessen mit der Epidemie umzugehen. So mussten erst Wochen vergehen, bis Flüge aus dem Hochrisikogebiet Iran gestoppt wurden. An die flächendeckende Verteilung von Schutzkleidungen und Desinfektionsmitteln im öffentlichen Raum ist nicht zu denken, da selbst Ärzte und Kliniken Notstände beklagen. Und auch das RKI hinkt hinterher: Erst Wochen nach dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland empfiehlt das Institut das Tragen von Schutzmasken.

Angesichts eines solchen Mangels an Kompetenz könnte man erwarten, dass viele Bürger schier aus der Haut fahren.

Das neue Corona-Biedermeier

Nicht in Deutschland. Hier erlebt die CDU gerade ein Umfragehoch, und Angela Merkel wird für ihr Krisenmanagement als Retterin der Nation gefeiert. Kritik wurde indes zum moralischen No-Go. Allein die Frage, ob es nicht Alternativen zum kompletten Lockdown oder den teilweise abstrusen Kontakteinschränkungen gäbe, ließ den Fragenden als den skrupellosen Egoisten dastehen, der den „Ernst der Lage“ nicht verstehen und mutwillig Menschenleben gefährden würde.

Diese Obrigkeitshörigkeit driftet vor allem auf Social Media ins Absurde ab. Denn obwohl die Nerven der Bevölkerung im echten Leben blank liegen, wird die Krise im Netz zu einem kitschigen Biedermeier-Happening verniedlicht. Endlich, so liest man in den Feeds, hat man mal Zeit, Fenster zu putzten, ein Lied zu komponieren, Regale zu streichen, zu stricken – oder sich eine Atemschutzmaske aus seinem Lieblings-Rosenmuster zu nähen. Konzerte, Ausstellungen und Theaterstücke kann man jetzt außerdem im Internet streamen. Motto: Alles nicht so schlimm! Hashtag: staypositiv!

Sorry, aber ich kann diesen Hype nicht nachvollziehen. Kultur auf dem Bildschirm ersetzt nicht die Vibes eines Publikums, eine Skype-Konferenz nicht die Umarmung eines Freundes. Es macht keinen Spaß, um seine wirtschaftliche Existenz oder die Gesundheit seiner Angehörigen zu bangen. Genauso ätzend ist es, als Single jeden Tag die Wand anzustarren, mit der Familie über Wochen hinweg eingesperrt zu sein oder als Kassiererin ohne Mundschutz (weil es keine gibt!) die Ware von hustenden Kunden übers Band zu ziehen.

Träumereien der Eliten

Nun könnte man dieses komische Gebaren im Netz auch als eine Art Eskapismus einer völlig verunsicherten Bevölkerung bezeichnen. Wären da nicht die zahlreichen Stimmen, die sich die Apokalypse regelrecht herbeisehnen.

Diese Tendenz beschreibt auch die Philosophin Thea Dorn. Es seien mitunter wohlhabende Menschen, die eine Sehnsucht nach der Katastrophe hegten, erklärt sie, weil mit ihr ein radikaler Umsturz, ein signifikanter Einschnitt in der Geschichte, stattfinden könnte. Pragmatische Lösungen für eine gewöhnliche Krise zu finden, sei für das saturierte Individuum dagegen nicht nur zu unspektakulär, sondern auch mit mühsamen Anstrengungen verbunden.

Nichts anderes geschieht gerade in der Corona-Krise: Endlich, so liest man immer wieder, ist das Wasser in Venedig klar, kann man die Gipfel des Himalaya wieder sehen, sinkt der CO2-Gehalt in der Luft. Endlich geht das System zu Grunde – für mehr Sozialismus, mehr Umweltschutz und eine perfekte Blümchen-Welt, die es eigentlich nur auf Instagram gibt.

Um es kurz zu machen: Es sind vor allem die wohlhabenden Lifestyle-Eliten, die den Tod und das Leid von Tausenden Menschen gerade für kitschig-naive Zukunftsträumereien missbrauchen. Sie sind so gut abgesichert, dass ihnen der fatale Zustand nicht viel anhaben kann. Corona ist für sie so etwas wie Netflix für die Realität: Endlich passiert mal etwas Aufregendes in dieser öden Welt, in der sich das ersehnte Glück – trotz perfekter Work-Life-Balance und teurer Designer-Möbel – einfach nicht einstellen will.

Es ist diese Ignoranz der Wohlstandsverwahrlosten, die wir anpöbeln sollten. Und nicht unsere Mitmenschen im Supermarkt.