Also, anfangs hat man das Ganze ja noch nicht so richtig ernst genommen, oder? Virus in China, ja gut, ist weit weg, gab es schon öfter. Niemand hätte doch damit gerechnet, dass die Welt deswegen irgendwann eine Vollbremsung hinlegen würde. Ich jedenfalls nicht.

Ich erinnere mich noch, wie ich zu SARS-Zeiten 2003 nach Singapur geflogen bin. Am Flughafen wurde mit einem Temperaturmessgerät auf die Neuankömmlinge angelegt, und die Zimmerpreise in den Hotels waren sensationell günstig, weil ganz China seine Buchungen storniert hatte. Das war SARS. Dass hinter den Kulissen die Experten anfingen zu beten, hat ja damals kaum einer mitgekriegt. 

Corona klang für mich anfangs auch nicht unbedingt nach Weltuntergang. Wenn ein Virus nach einer Biermarke benannt wird, kann es mit dem Weltuntergangsfaktor nicht allzu weit her sein, werde ich wohl gedacht haben. Jedenfalls habe ich mich im Februar wie geplant ins Flugzeug gesetzt und bin nach Singapur geflogen. Ich mag Singapur. Singapur ist sauber und sicher und auf eine putzige Art scheinheilig. Vor ein paar Tagen entschied das Oberste Gericht hier gerade, dass Paragraph 377A des Strafgesetzbuchs, der Sex zwischen erwachsenen Männern unter Strafe stellt, mit der Verfassung vereinbar und zum Schutz der öffentlichen Moral unerlässlich sei. Es gibt schwule Bars in Singapur, es gibt schwule Clubs, und in den Schwulensaunen wird jetzt auch nicht unbedingt Halma gespielt. Und was sagt der Richter? Man könne den Paragraphen nicht einfach deshalb als überflüssig ansehen, nur weil er nicht mehr angewendet werde. Genial. Ich mag Singapur. 

So, ich landete also im Februar auf dem Changi Airport, wo ein vermummter Jungspund mit einem Laser auf mich zielte, oder was auch immer sie da auf einen abschießen. Meine Körpertemperatur war Grund zu ungeteilter Freude, und so wurde ich also eingelassen in dieses wunderliche Land. Und während ich in den nächsten Wochen von meinem tropischen Außenposten aus staunend verfolgte, wie sich das Virus von China über Europa nach Amerika ausbreitete und alles auf den Kopf stellte, lief das Leben hier in Singapur weiter, als ginge es der Rest der Welt nichts an. Auf den Straßen und Märkten das übliche Gedränge, die Starbuckse voll von Studenten mit Riesenbrillen und Laptops, und Kirchen und Moscheen offen für jedermann. Toll, Singapur ist irgendwie immun, habe ich noch gedacht und mich munter unters Volk gemischt, in dem dann allerdings mit der Zeit immer mehr Maskenträger auftauchten. Nun mal nicht gleich die Pferde scheu machen, wiegelte ich zunächst ab, habe dann aber mit Erstaunen an mir beobachtet, wie ich in der U-Bahn oder im Café zunehmend jedes Niesen und jeden Anflug von Husten zu unterdrücken versuchte. In Frankreich hat eine Frau ein paar Asiaten in der U-Bahn angeblafft und sie aufgefordert, sofort auszusteigen. Die hatten sich nicht mal geräuspert oder irgendwas, aber waren halt Asiaten. Ich hoffe wirklich, dass mich hier keiner für einen Italiener hält. 

Es gibt noch Friseure

Nach und nach klangen auch in Singapur die Nachrichtensendungen, sonst ein verlässlicher Quell patriotischer Zuversicht, immer düsterer, dann wurde die Grenze zu Malaysia dicht gemacht und schließlich teilte mir die Fluggesellschaft meines Vertrauens mit, dass sie unter keinen Umständen gewillt ist, mich zum vereinbarten Termin wieder nach Hause zu fliegen. Musste ich mir Sorgen machen? Nicht dass es mich jetzt verzweifelt nach München zurückgesehnt hätte. Man hatte aus der Ferne irgendwie den Eindruck, als fahre in Europa gerade eine Sense zwischen die Menschen. Da fühlte ich mich in Singapur doch um einiges besser aufgehoben, muss ich sagen. Doch dann gab es plötzlich kein Toilettenpapier mehr. Lee Hsien Loong, Singapurs wirklich netter Regierungschef, versicherte zwar, es bestünde kein Grund zur Panik, doch das Volk, sonst eines der autoritätsgläubigsten und -freudigsten der Welt, machte dicke Backen und räumte die Regale leer. Unterdessen stieg auch hier die Zahl der Infizierten. Am 21. März wurden die ersten beiden Toten gemeldet. 

Nachdem dann vor kurzem in den Gastarbeiterunterkünften, in denen Männer aus Indien und Bangladesh und all den anderen übervölkerten Landstrichen Asiens zu zehnt und zu zwölft in ihren Zimmern zusammengefaltet werden, jede Menge Corona-Fälle aufgetreten waren, hat nun auch Singapur bis zum 4. Mai alle nicht lebensnotwendigen Aktivitäten heruntergefahren, Angestellte ins Home Office geschickt und die Schulen geschlossen. Das Geschäftsviertel an der Marina Bay ist verwaist, und über die Touristenmeile Orchard Road rollen inzwischen bestimmt Tumbleweed-Kugeln. Supermärkte und Apotheken aber sind weiter geöffnet, und auch an den Ständen der Food Courts können sich die Singapurer weiter mit lecker Schnittchen eindecken – wenn auch nur noch als Takeaway auf die Hand. Nach vier Wochen wird Singapur wahrscheinlich auf einem Berg aus Plastikschalen und Styroportellern davontreiben.  

Auf der Internetseite des Auswärtigen Amts steht derzeit in großen Lettern eine dringende Reisewarnung, in der alle Deutschen, die sich noch im Ausland rumtreiben, aufgefordert werden, nach Hause zu kommen, „solange es noch Reisemöglichkeiten gibt“. Doch selbst wenn ich es nach München schaffen würde, was wäre dann gewonnen? Hier ist wenigstens noch der Friseur offen. Habe mir gerade einen Corona-Schnitt verpassen lassen, der für die nächsten vier Wochen reichen sollte. Und wenn mir irgendwann doch eine wirre Strähne in die Stirn fällt, gehe ich einfach nach unten zu meiner einsilbigen chinesischen Friseurin – und schnippeldischnapp ist die Sache erledigt. Bei ihr dauert die Sache keine fünf Minuten und ich zahle elf Singapur-Dollar, nach derzeitigem Umrechnungskurs 7,10 Euro. Mein bayerischer Traditionsfriseur daheim textet mich eine halbe Stunde lang zu, schneidet jedes Haar einzeln und verlangt am Ende 16 Euro. 

Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile hier.

Frank Stern ist freier Reisejournalist, er lebt in München und Singapur.