Die Ukraine will Mitglied der EU werden. Eine energiepolitische Annäherung gibt es bereits: die Verbindung mit dem europäischen Stromnetz. Wie dieses wichtige Vorhaben auch im Krieg klappen könnte, erläutert die Strom- und Osteuropa-Expertin Susanne Nies im Gespräch mit Bernd Rheinberg.

Frau Nies, beruflich sind Sie seit vielen Jahren mit der Strom-Synchronisierung der Ukraine befasst. Was bedeutet es, dieses Land zu synchronisieren?

Die Synchronisierung der Ukraine bedeutet, das große Stromsystem Kontinentaleuropas mit dem ukrainischen und moldawischen Stromnetz zu verbinden, und zwar im Wechselstrom 50Hertz. Gleichstromverbindungen sind einfach herzustellen, da sie nicht verlangen, dass die Systeme aufeinander abgestimmt sind. Eine Gleichstromverbindung funktioniert wie ein Kraftwerk: man schaltet es ein oder aus, fährt es hoch oder runter. Anders bei Wechselstrom: der Fehler jedes Einzelnen ist das Problem aller anderen. Das haben wir z.B. im Jahr 2006 beim sogenannten „System Split“ in Europa gesehen. Vergessen wir nicht, daß sich Strom quasi in Lichtgeschwindigkeit bewegt (299.000 km/s). Eine Synchronisierung ist deshalb ein sehr wichtiges Symbol des Zusammengehörens, der Zusammenarbeit, und setzt voraus, dass sich alle Beteiligten an die gleichen Spielregeln halten, um die Frequenz aufrechtzuerhalten: 50Hertz in Europa Ost- und West (auch Russland und sein System), 60Hertz in den USA und zur Hälfte in Japan.

Wie funktioniert so eine Synchronisierung technisch?

Synchronisierung ist ein langer Prozess, der über viele Jahre sorgsam von sehr fachkundigen Ingenieuren vorbereitet wird. In gemeinsamer Arbeit verschiedener Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) (in diesem Falle der Länder Polen,  Slovakei, Ungarn, Deutschland, Rumänien), unter Einbeziehung von ENTSO-E (Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber), unter Beteiligung renommierter technisch versierter Institute wie in diesem Falle des staatlichen polnischen Instituts for Power System Engineering, Gdansk Division, wird ein Maßnahmenkatalog abgearbeitet, bis alle technischen Voraussetzungen für die Synchronisierung erfüllt sind.  Man vergisst leicht, dass in diesem Falle Ukraine und Moldawien, die stromtechnisch zusammenhängen, gemeinsam synchronisiert werden.  Die Ukraine und Moldawien haben den Maßnahmenkatalog fast vollständig abgearbeitet. Es fehlten vor Ausbruch des Kriegs noch zwei Dinge: erstens, der Beweis im Inselmodus, also dass das ukrainische Stromsystem auf sich allein gestellt stabil ist – hierzu waren im Jahr 2022 zwei Tests im Februar und Juni vorgesehen; zweitens, die Bewältigung von sogenannten interregionalen Oszillationen, die „Gdansk“ in einer Studie im November als Risiko herausgefunden hatte. Dafür sind Technologien wie Statcom oder die Smartvalve meiner Firma oder auch Batterien einsetzbar, was eine gewisse Vorlaufzeit benötigt. Wenn alle Maßnahmen abgearbeitet sind, dann wird synchronisiert. Im ukrainischen Fall ist das nicht zu kompliziert, es wird eine Verbindung mit Ungarn, Polen und Slowakei geben. Auf moldawischer Seite erfolgt die synchrone Anbindung an Bulgarien und Rumänien. Bei einer Synchronisierung muß sich das entsprechende Land von allen anderen Ländern, die nicht synchronisiert werden, abkoppeln. Nebenbei, die zentraleuropäischen Staaten Polen, Ungarn, Tschechische und Slowakische Republik, sogenanntes Centrel, sind seit 1995 synchronisiert. Der Balkan war schon vorher synchronisiert. Und im Jahr 2015 wurde die Türkei (ÜNB Teias) synchronisiert, nach mehr als zehn Jahren Vorbereitung und fünf Jahren Probebetrieb. Die stromtechnische Zusammenarbeit mit der Türkei läuft hervorragend.

Inwieweit hat diese Synchronisierung der Ukraine eine wirtschaftliche, politische und strategische Bedeutung?

Die Ukraine ist bis zum 23. Februar mit dem russischen System IPS/UPS synchronisiert gewesen, an dem auch heute noch die baltischen Staaten, Belarus, Georgien und andere GUS-Staaten hängen. Wie Science Fiction mag es von heute her anmuten, dass man sogar einmal daran dachte, IPS/UPS und das europäische Verbundsystem UCTE zu verbinden: Strom quasi vom Atlantik bis Wladiwostok. Die Symbolkraft der Synchronisierung kann gar nicht überschätzt werden. Als die Türkei die Synchronisierung beantragte – zeitgleich wünschte sie ja die Aufnahme in die EU – wollten einige Ingenieure sie überzeugen, dass das kein gutes Projekt sei, man evtl. nur Istanbul synchronisieren sollte etc. Man möge sich aber vorstellen, was die Synchronisierung des früheren Konstantinopels ohne den Rest für eine politische Sprengkraft gehabt hätte! Die Türkei hat sich nicht darauf nicht eingelassen, denn sie war sich der Symbolkraft dieser Stromgemeinschaft ebenso bewusst wie es die Polen, Ungarn, Tschechen waren. Auch die Schweiz ist Teil des Stromverbundes – hier liegt die Wiege des europäischen Stromnetzes. Es ist übrigens bemerkenswert, dass der ursprünglich von Russland bewilligte Termin für den Inselbetrieb der Ukraine am 3. bis 5. Februar storniert und auf den 23. bis 27. Februar verschoben  wurde. Ich habe mir diesen Termin gleich in meinen Kalender notiert, weil ich mir dachte, dass das ein Vorzeichen sein könnte. Aber wie wir alle – und auch meine ukrainischen Freunde und Bekannten – wollte ich auch nicht wirklich glauben, dass so ein Angriffskrieg stattfinden könnte. Er liegt einfach jenseits aller Schemata, in denen wir denken können. Was war der Grund für dieses Verschieben? Heute wissen wir es besser. Die wahrscheinliche Absprache mit China, den Angriff auf die Ukraine auf die Zeit nach den olympischen Spielen zu verschieben, fällt mit der genannten Verschiebung des Inselbetriebs sicherlich nicht zufällig zusammen. Vermutlich hoffte Putin, dann mit der Ukraine ein leichteres Spiel zu haben, weil sie den Insel-Modus nicht über längere Zeit würde bewältigen können. Die Tatsache, dass die ausgezeichneten ukrainischen Ingenieure das Netz bis heute zusammengehalten und die Stromversorgung weiter Teile des Landes sichergestellt haben, ist ein Beweis ihrer Kompetenz.

Hat die Synchronisierung der Ukraine also auch eine Bedeutung für eine mögliche Aufnahme der Ukraine in die EU?

Die Verbindung mit dem Gebiet von ENTSO-E ist ein stiller erster Schritt in Richtung Aufnahme in die EU, im weiteren Sinne in die Gemeinschaft. Natürlich mag man einwenden, dass das nicht zwangsläufig ist, schließlich sei das bei der Türkei so nicht gekommen und die Schweiz nicht Teil der EU. Ja, das stimmt. Im Fall der Türkei hat die politische Entwicklung des Landes zu einer anderen Richtung geführt. Im Fall der Ukraine ist aber aus Sicht der Regierung und der Bevölkerung nur eine Richtung möglich: EU-Integration. Die Ukraine wird oft in antiquierter Weise als ein Land der Schwarzerde, der Rohstoffe, der alten Atommeiler gesehen. Dieses Bild muß aktualisiert werden. Tatsächlich ist die Ukraine ein Land mit einer sehr hochqualifizierten IT-Industrie, mit wichtigen Universitäten und Bildungsstätten und mit einer starken Entwicklung Erneuerbarer Energieträger im Land. Durch die Mitgliedschaft in der Energiegemeinschaft seit 2011, die EU-Beitrittskandidaten vornehmlich vom Balkan, aber auch Moldawien, Georgien und Ukraine energiepolitisch an die EU heranführt, ist die Ukraine auch in Sachen Energie-Gesetze mehr und mehr mit uns verbunden. Die Synchronisierung der Ukraine bringt für alle beteiligten Länder mittelfristig erhebliche Vorteile. Sie wird die Entwicklung von Erneuerbaren in der Ukraine noch weiter beschleunigen, sie wird die Versorgungssicherheit aller beteiligten Länder stärken, Austausch ermöglichen etc. Vergessen wir aber nicht, dass wir hier von einer Not-Synchronisierung sprechen. Diese ist vor allem deshalb nötig, weil die derzeitige Strom-Nachfrage in der Ukraine sehr gering ist (ca. 12 GW von einer installierten Leistung im Land von 53GW). Die niedrige Nachfrage ist ein Risiko für die Frequenz-Stabilität der 50Hertz: Atomkraftwerke, die ja nunmal den meisten Strom in der Ukraine liefern, würden sich als Schutzmaßnahme abschalten und damit die Frequenz weiter destabilisieren. Die Synchronisierung kann dieses Problem auffangen. Das würde aber auch bedeuten, dass man den Austausch zwischen der iberischen Halbinsel und Frankreich sowie zwischen Italien und seinen Nachbarn etwas reduziert,  denn auch hier sind sogenannte „Oszillationen“ typisch. Man will ja einen Multiplikatoreneffekt der Schwankungen vermeiden. Mittelfristig – gemeint sind die nächsten Monate – müsste dann das Problem  durch den Einbau entsprechender technischer Stabilisatoren gelöst werden.

Was sind denn die Vorteile dieser Synchronisierung bzw. des Wechselstromsystems?

Wie bereits gesagt, Synchronisierung ist eine Art Hochzeit: man will zusammenarbeiten, und man unterstützt sich gegenseitig. Je größer die synchrone Zone, desto besser die Stabilität der 50Hertz. Allerdings natürlich nur, wenn alle die Spielregeln befolgen. Dafür sorgen ENTSO-E bzw. die Mitgliedsunternehmen. In Kontinentaleuropa sind quasi Amprion aus Deutschland und Swissgrid aus der Schweiz die Blockwarte der Frequenz. England und die skandinavischen Länder sind mit Gleichstrom mit Kontinentaleuropa verbunden und damit nicht Teil dieser Synchronzone.

Auch die Baltischen Staaten sind wie die Ukraine noch in dem russischen System IPS/UPS. Wollen sie nicht wechseln? Und was wäre ihr Vorteil?

Die Vorbereitung der Synchronisierung ist abgeschlossen. Die baltischen Staaten werden über Polen synchronisiert und sich von Russland und damit auch Kaliningrad bzw. Belarus abkoppeln. Neue Verbindungen sind hier nicht geplant. Kaliningrad wird eine dauerhafte Strominsel, was kein Problem ist. Sollte es politische Drohungen oder Risiken für die baltischen Staaten geben, so könnte die Synchronisierung noch morgen umgesetzt werden. Dieser Prozess wurde im Kontext der brutalen Niederschlagung der Opposition in Belarus beschleunigt und war ursprünglich für 2025 vorgesehen. Der Vorteil für die baltischen Staaten ist die Sicherheit, die Symbolkraft, das klare Eingebundensein in das EU-System. Wirtschaftlich macht die Einbindung weniger Sinn als etwa die der Ukraine.

Welche Rolle spielen die einzelnen Energieträger für das Wechselstromsystem, zum Beispiel die Erneuerbare Energie oder der Atomstrom?

Elektronen haben keine Farbe – sie sind nichtgrün, blau, schwarz oder gelb-schwarz. Es ist gleichgültig, wie der Strom erzeugt wird. Aber wie bereits gesagt, es hat sich gezeigt, dass die mangelnde Flexibilität von Atomkraftwerken eine Herausforderung für ein stabiles Stromnetz sein kann: wenn der Verbrauch sinkt, dann kann man sie nur abschalten. Erneuerbare Energien haben andere Herausforderungen. Wichtig ist zu betonen, dass wir über die derzeitige Kriegssituation die geplante Aufrüstung nicht vergessen dürfen, dass die Bekämpfung des Klimawandels durch Klimaneutralität unser gemeinsames Ziel ist und dass wir hier keine Zeit verlieren dürfen. Von Atomkraft in dieser sogenannten „Net Zero“-Agenda halte ich persönlich, trotz der CO2-Bilanz, nichts, da die Risiken, die wir gerade im Krieg noch einmal dramatischer erleben, offensichtlich sind.  Energieeffizienz, Erneuerbare, ein intelligentes, auf vorhandenen Technologien basierendes Stromsystem sind die Antwort. Die zentrale Rolle des Stromnetzes gilt es einmal mehr zu würdigen: ohne Netz kein Erneuerbaren-Ausbau. Das wird zu oft vergessen.

Was passiert nun, nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine? Kann der Prozess der Synchronisierung überhaupt fortgesetzt werden, ergibt er noch einen Sinn?

Der Prozess der Synchronisierung ist ein albtraumhafter Wettlauf mit der Zeit. Ich habe mich sehr gefreut, dass die europäische Kommission und Mitgliedsstaaten – insbesondere Frankreich, mein früherer Arbeitgeber ENTSO-E und seine Mitglieder, die USA und die Weltbank – diese Wette angenommen haben. Die Synchronisierung ist möglich und soll bis zum 14. März stattgefunden haben. Ich erhalte täglich Berichte über die elektrische Situation in der Ukraine, und trotz des Kriegsbeginns hat man es geschafft – mit Ausnahme leider von Gebieten wie Mariupol, denn dort werden die Techniker nicht hereingelassen. Ich hoffe jeden Tag, wie wir alle, dass dieser Krieg so rasch wie möglich endet und dass die Ukraine und ihr beeindruckender von einem beeindruckenden Volk gewählter Präsident umsetzen können, was sie schon frei entschieden haben: Teil der europäischen Familie zu sein und mit dem so wichtigen Symbol des gemeinsamen Stromnetzes den ersten Schritt zu machen.

Frau Nies, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Susanne Nies ist Hauptgeschäftsführerin Deutschland für Smart Wires, ein US-Smart-Grid-Unternehmen. Die habilitierte Politikwissenschaftlerin, Slavistin und Romanistin war von 1989 bis 1995 bei der Heinrich-Böll-Stiftung Osteuropa-Referentin, danach an der FU Berlin, Sciences Po und CERI Paris, IFRI sowie Eurelectric und ENTSO-E tätig. Frau Nies arbeitet aktuell bei Smart Wires zu Gas und Strom in der Ukraine und hat dazu umfangreich publiziert.