Kann es sein, dass wesentliche Teile des Medien- und Politikbetriebs gerade die Radikalisierung schaffen, die sie eigentlich bekämpfen wollen? Gastautor Frank Stern macht sich Sorgen.

Neulich machte sich der amerikanische Talkshowmoderator Jimmy Kimmel darüber lustig, dass Dr. Seuss“ Enterprises sechs Bücher des 1991 verstorbenen Kinderbuchautors (Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat) wegen angeblich rassistischer Stereotype künftig nicht mehr drucken will. Und dass die Spielfigur Mr. Potato Head entmannt wurde und in Zukunft ohne das Mr. auskommen muss. Und dass alte Muppets-Folgen mit einem Warnhinweis versehen werden. „Übrigens“, kommentierte Kimmel den Kahlschlag, „auf diese Weise wird Trump wiedergewählt.“ Ich fürchte, der Mann hat Recht. In vier Jahren könnte der senile Lustgreis wie Kai aus der Kiste springen, weil immer mehr Leute den Eindruck gewinnen, nur das golfende Großmaul könne sie vor den Umerziehungslagern pseudolinker Aktivisten bewahren. 

Ich hege nicht die Hoffnung, dass sich die dauerempörten Jakobiner unserer Tage von solchen Projektionen bremsen lassen werden. In Amerika nicht und in Deutschland, wo man es immer besonders gründlich machen will, gleich gar nicht. Bei uns gibt es mittlerweile politisch korrekte Kabarettisten! Kein Scherz. Es gibt Gender-Leitfäden an Universitäten und in Stadtverwaltungen. Und es gibt Nachrichtensprecher, die tatsächlich glauben, benachteiligten Gruppen durch eine Leerstelle eine besondere Referenz zu erweisen. „Das ZDF hat sich das Ziel gesetzt, diskriminierungsfrei zu kommunizieren“, hat mich der Zuschauerservice des Mainzer Senders neulich aufgeklärt. „Die Gesamtheit unserer Zuschauer*innen soll sich im Programm angesprochen und durch die Ansprache wertschätzend behandelt fühlen.“

Mehr Thierse wagen

Nun kann man diskriminierungsfrei kommunizieren, ohne in eine Kunstsprache zu verfallen, die zudem von der Mehrheit der Zuschauer*innen abgelehnt wird, würde ich sagen. Welch absurden Blüten dieser volkspädagogische Ansatz mitunter treibt, zeigte Petra Gerster besonders hübsch, als sie im heute journal in einem Beitrag zur Querdenkenbewegung von „Extremist*innen“ sprach. Heiliger Glottisschlag, habe ich gedacht, da werden die Demokratiefeinde, Rassisten und Antisemiten im Land aber aufatmen, dass auf ihre genderspezifischen Empfindlichkeiten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf so wertschätzende Weise Rücksicht genommen wird. Ich glaube, ich bin von dieser übergriffigen Zwangsbekehrung deshalb so unangenehm berührt, weil sie mich fatal an die DDR erinnert. Die Bevormundung, das Abkanzeln, der Gestus moralischer Überlegenheit – alles schon gehabt. „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht!“ 

Schalt doch um, höre ich rufen. Zwingt dich doch keiner. Aber warum sollte ich? Schließlich bin ich einer von denen, die den ganzen Sums bezahlen. Kann ich nicht den Fernseher anmachen, ohne dass mir Claus Kleber und die anderen Sprachakrobaten mit leuchtenden Augen reinreiben, wie woke sie sind? Ich bin ziemlich sicher, dass mangelndes Sprachgefühl nicht ausreichen wird, die Welt gerechter zu machen. Wolfgang „The Beard“ Thierse hat jetzt in der FAZ die Frage gestellt, wie viel Identitätspolitik die Gesellschaft verträgt, und sich dagegen ausgesprochen, „Menschen, die andere, abweichende Ansichten haben und die eine andere als die verordnete Sprache benutzen, aus dem offenen Diskurs in den Medien oder aus der Universität auszuschließen.“ Das sei weder links noch demokratisch. Und zack war er ein alter weißer Mann. Und Gesine Schwan gleich mit. Arbeiterführerin Saskia Esken und ihr Sidekick Kevin Kühnert waren umgehend betroffen und zeigten sich tief besorgt über das rückwärts gewandte Bild, das Thierse von der SPD gezeichnet habe. „All das beschämt uns zutiefst.“ Muss man sich vorstellen: Esken und Kühnert schämen sich für Wolfgang Thierse. So was kann man sich nicht ausdenken. Hat man von dem anderen, der die SPD angeblich führt – wie hieß er doch gleich? – hat man von dem in letzter Zeit irgendwas gehört? 

Vielleicht sollten wir alle ein wenig mehr Thierse wagen.

Frank Stern ist freier Journalist und lebt in München und Singapur