Es gibt allgemein bekannte Maßstäbe für gutes Regieren. Aber in Deutschland scheinen sie keine Rolle mehr zu spielen. Dabei ließe sich das durch einen einfachen Akt ändern. Und zwar jetzt.

Vorgestern, am 11. März, trat ein sehr alter Mann an sein Rednerpult und hielt eine Rede an die Nation. Der Zeitpunkt war gut gewählt, denn es jährte sich das Datum, an dem die WHO verkündete, dass es sich bei der Verbreitung des Corona-Virus um eine globale Pandemie handele. Seitdem sind Millionen Menschen an der Krankheit Covid-19 gestorben, andere leiden an Langzeitfolgen, Volkswirtschaften liegen zu einem großen Teil brach, Freiheiten wurden eingeschränkt. 

Der sehr alte Mann – es war US-Präsident Joe Biden – machte in seiner Ansprache deutlich, dass er den Kampf gegen das Virus verstärken werde, und er wirkte trotz seines hohen Alters äußerst entschlossen, seine Pläne auch umzusetzen. Man darf es ihm glauben, denn er hat in den wenigen Wochen, die er im Amt ist, schon sehr viel mehr als sein Vorgänger erreicht: Die Zahl der Impfungen in den USA erreichen Spitzenwerte; die Zahl der Toten geht zurück; sein Versprechen, innerhalb der ersten 100 Tage seiner Amtszeit 100 Millionen Amerikaner impfen zu lassen, wird er vorzeitig erfüllen. Und nun will er das Tempo der Impfungen noch einmal erhöhen.

Diese Rede des US-Präsidenten zeigt zweierlei: nämlich dass man, erstens, bei allen schweren Problemen, die dieses Land hat, auch immer mit den USA rechnen kann, wenn es einen fähigen Politiker an der Spitze hat; und dass man sich, zweitens, in Europa eine Scheibe davon abschneiden kann, sollte, muss.

Nirgends wird all das deutlicher als in einem der Kernländer Europas: in Deutschland. Die Regierung wirkt ratlos, müde und desorientiert; gleichzeitig zerfällt die „staatstragende“ Regierungskoalition CDU/CSU durch mehr als peinliche Korruptionsfälle. Über all dem schwebt eine Kanzlerin, die keine Worte findet, die in jeder Hinsicht erschöpft wirkt und daher auch nicht die Entschlossenheit aufbringt, den Kampf gegen das Virus zu intensivieren. Zuletzt wirkten ihre Sätze wie aus dem Sprechautomaten, ja, fast wirr. Es lägen „noch drei, vier schwere Monate“ vor uns: „Wir versuchen jetzt die Brücken zu bauen, aber wir wissen auch nicht, wohin wir die genau bauen.“ 

Nun muss man akzeptieren, ja, Verständnis dafür haben, dass eine Politikerin, die seit über 15 Jahren das Land führt, auch an das Ende ihrer Kräfte kommen kann. Aber dann muss sie eigentlich auch, wo sie doch als so vernunftgelenkt gilt, daraus Konsequenzen ziehen.

VERLETZUNG DES AMTSEIDES

Ich habe über die Jahre allgemein sehr viele Reden über „Gutes Regieren“ gehört, und nicht wenige Redner dachten dabei an Deutschland als Vorbild für andere Länder, vor allem von der südlichen Hemisphäre. Dabei ging es um Rechtsstaatlichkeit, funktionierende Verwaltung, Kompetenz, solides Wirtschaften, Stabilität, Innovationsfähigkeit, Partizipation, Zukunftsorientierung. Nun treffen wir auf die erste schwere Krise seit langem – es dürfte nicht die letzte, es dürfte nicht die schwerste gewesen sein – und schon blättert der Lack vom Vorbild Deutschland. Erkennbar wird eine schlechte digitale Infrastruktur, eine überforderte Verwaltung, mangelnde Kompetenz an der Spitze von Ministerien, fehlende Handlungsfähigkeit usw. Da tröstet es nicht, wenn es anderen Ländern noch schlechter geht. Es kann nicht der Anspruch sein, sich an diesen zu orientieren. Zu viel steht auf dem Spiel. Wer sich nicht nach oben reckt und dehnt, wird verfallen.

Das Problem fing schon damit an, dass die Kanzlerin den eigenen Amtseid nicht mehr ernst nahm. Zur Erinnerung, er lautet: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Genau wegen dieser Worte und der Verpflichtung, die in ihnen liegt, hätte sie nie die Impfstoffbeschaffung an die EU abgeben dürfen, die, wie die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eingestand, kein Schnellboot, sondern ein Tanker ist. Wer die europäische Politik auch nur ein wenig kennt, hätte das wissen können. Auch in den Monaten danach schien die Merkelsche Politik so, als wären ihr die Worte des Amtseides fremd. Vielleicht liegt unser Pandemieproblem auch darin begründet, dass Merkel am Ende ihrer Amtszeit ist, quasi im Sinkflug und ohne Kraft, noch einmal durchzustarten. Aber genau das verlangen die Umstände. 

POLITISCHE LANGZEITFOLGEN

Wer auf die Impfsituation in den USA schaut, tut das momentan mit Neid. Doch keiner will daraus die gebotene Folgerung für Deutschland ziehen, denn die hieße: sofortiger Rücktritt von Angela Merkel. Vielleicht liegt das am Respekt für diese großartige Frau. Aber unser Respekt muss vor allem dem Amt gelten, und dieses Amt zieht Verpflichtungen nach sich, die die Kanzlerin anscheinend nicht mehr erfüllen kann. Einige werden jetzt sicher denken, ich würde übertreiben mit meiner Rücktrittsforderung, ich sei anmaßend oder hysterisch oder einer dieser Kerle, die schon seit Jahren „Merkel muss weg“ brüllen. Das alles bin ich nicht. Aber die offensichtliche Verletzung des Amtseides, die Überforderung durch die pandemische Krise, die weitgehende Verantwortung für das bisherige Versagen und die fehlende Aussicht auf Besserung machen den Rücktritt zwingend. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wir in einem halben Jahr wählen werden und eine neue Regierungsspitze kriegen. In diesem halben Jahr stehen weiterhin Menschenleben, Wohlstand, Freiheit und – man sollte diesen Punkt nicht unterschätzen – das Vertrauen in den Staat und die Politik allgemein auf dem Spiel. Ein Zaudern und Durchwursteln hätte politische Langzeitfolgen, die man nicht aus falschem Respekt oder Langmut in Kauf nehmen darf. Besondere Situationen erfordern politisches Handeln. Deswegen bleibe ich dabei: Angela Merkel muss zurücktreten.