Ein Schwank aus der fernen Zukunft.

Bekanntlich soll alles mit einem scherzhaft gemeinten Internetvideo angefangen haben. “Schwerkraft? Gibt’s gar nicht”, versicherte dort eine Männerstimme aus dem Off, dazu war ein Walross zu sehen, das, ein Filmtrick machte es möglich, knapp unterhalb der Decke schwebte. Manche Historiker verweisen auch auf den Mitschnitt eines Vortrags von Prof. Dr. Leuchtentrager, der mithilfe komplizierter Diagramme seine Theorien entfaltete; der Höhepunkt seines Vortrags war erreicht, als er mit fanatisch glänzenden Augen ausrief: “Die Gravitation existiert nicht, lassen Sie sich da nichts vormachen — vor allem nicht von der Regierung und den Mainstreammedien!” Heute weiß jeder — außer einem Häuflein Unbelehrbarer —, dass es sich bei Dr. Leuchtentrager keineswegs um einen Absolventen der Stanford University handelte, wie er selber behauptete, sondern um einen Elektrikermeister, der wegen akuter Wahnvorstellungen behandelt wurde; sein Name war auch gar nicht Leuchtentrager, sondern Karl Müller. Aber das war damals noch weitestgehend unbekannt. Wie auch immer, bei jenem Vortrag dürfte es sich keineswegs um die Initialzündung gehandelt haben, da er drei Wochen nach dem Trickvideo von dem schwebenden Walross aufgezeichnet wurde.

Fliegende Steine

Über die Gründe für die schnelle Verbreitung der Antischwerkrafthypothese ist häufig diskutiert wurden. Handelte es sich um ein Symptom der Dekadenz im Spätkapitalismus, wie manche Soziologen im Rückblick vermuten, oder war der Grund vielmehr die pure und ungefilterte Langeweile? Wer oder was auch immer die Schuld trug: Nur zwei Monate nachdem das Video mit dem schwebenden Walross veröffentlicht worden war, bekannten sich laut Umfragen zwölf Komma drei Prozent der Bevölkerung zu dem Glauben, dass es sich bei der Gravitation um einen ausgemachten Schwindel halte. Bald wurde Prof. Dr. Leuchtentrager in die ersten Fernsehtalkshows eingeladen. Zwar widersprachen die anderen Gäste ihm vehement, aber just das münzte er zu einem Argument für seine Thesen um. “Ich soll hier zum Schweigen gebracht werden”, sagte er in die Kameras. “Man will mich mundtot machen. Sehen Sie, wie sich alle gegen mich verbünden? Man schreit mich nieder! Das ist Zensur!” Bald füllte Dr. Leuchtentrager ganze Säle mit seinen Vorträgen. Stets führte er in der Hosentasche einen kleinen Stein bei sich, den er als Beweis, dass Gravitation ein Irrtum sei, zu Boden fallen ließ. “Haben Sie gesehen”, rief er dann aus, “wie dieser Stein sich in die Luft erhoben hat und nach oben gesaust ist? Quod erat demonstrandum.” Immer leiser wurden die Stimmen derjenigen, die auf den Stein deuteten, der vor Dr. Leuchtentrager auf dem Boden lag und den er nach der Demonstration lässig wieder in die Tasche schob. Bald beschworen Hunderte, sie hätten den Stein mit eigenen Augen fliegen gesehen. Auch viele Anhänger der Schwerkraftthese sagten nun nicht mehr, dass der Stein jedes Mal zu Boden fiel; sie sagten nur noch: in den meisten Fällen.

Im Jahre 20xx kam es, wie es wohl kommen musste: Die Antischwerkraftpartei, kurz ASP, wurde gegründet. Auf dem ersten Parteitag verdammten Rednerinnen und Redner — Kapitänswitwen und pensionierte Softwaredesigner aus dem Esoterikmilieu, die sich bis dato vor allem mit Tarot und Heilkristallen beschäftigt hatten — einhellig die folgenden zwei Scharlatane: Isaac Newton und Albert Einstein. Diese beiden hätten das christliche Abendland auf geistige Irr- und Abwege geführt, als sie eine sogenannte Gravitationstheorie aufstellten. “Dass es hier mit unrechten Dingen zugeht”, rief eine Rednerin, “sieht man schon daran, dass ihre Theorien einander eklatant widersprechen! Das kann doch nicht sein! Die Wahrheit ist unwandelbar! Entweder Newton oder Einstein — beides zusammen geht nicht!” An dieser Stelle sprangen die Delegierten von ihren Stühlen hoch und klatschten lang und heftig. “Aber”, sagte die Rednerin, eine ergraute Blondine mit wogendem Busen, die natürlich Brunhilde hieß, “ich kann Ihnen versichern, dass es viel einfacher ist: Sowohl Newton als auch Einstein haben Unsinn verzapft, meine Damen und Herren!” Brüllendes Gelächter; danach ließ wieder Prof. Dr. Leuchtentrager seinen berühmten Beweisstein schweben. Bei der nächsten Bundestagswahl scheiterte die ASP, wie jeder weiß, an der Fünfprozenthörde — es hätte den etablierten Parteien aber zu denken geben müssen, welche Erfolge sie auf der kommunalen Ebene zu verzeichnen hatte. Ein Dorf in Unterfranken wählte einen ASP-Bürgermeister. In seiner ersten Amtshandlung ließ er sämtliche Waagen zusammentragen und auf dem Dorfplatz verbrennen: Mit diesen “Instrumenten der Lüge”, so erklärte er, dürfe kein anständiger Mensch etwas zu tun haben.

Eingeschleppt aus Afrika

Danach mäßigte die ASP sich nicht etwa, sie wurden immer radikaler. Etwa ein Drittel der Delegierten des Gründungsparteitages schiffte sich an einem schönen Maitag nach Helgoland ein, um dort — als Beweis, dass die Schwerkraft nicht existiert — von der höchsten Klippe in die Nordsee zu hüpfen. Als von jenen Delegierten nie wieder etwas gesehen wurde, stand sofort fest, was geschehen war: Offenkundig hatte das Establishment sie heimtückisch verschwinden lassen. Die verschwundenen Delegierten gingen als “Opfer des Maimassakers” in die Parteigeschichte ein. Immer mehr Bürger wandten sich der ASP zu, bei der es sich laut Eigenbeschreibung um Menschen handelte, die wegen ihrer Überzeugungen verfolgt, verteufelt und nun auch noch ermordet wurden. Zudem hörte die ASP auf, eine Partei mit nur einem einzigen Programmpunkt zu sein. An der Schwerkraftlüge seien nur die Einwanderer aus Afrika schuld; die hätten aus ihren Herkunftsländern diesen Blödsinn eingeschleppt wie ein Virus. So erklärte Brunhilde, die damit zur Anführerin des rechten Parteiflügels der ASP wurde. Nein, die Schwerkraftlüge hätten Neoliberale ersonnen, um von den Verbrechen des Kapitalismus abzulenken und sie auf sogenannte Unfälle und Abstürze zu schieben, sagte Holger, der den (wesentlich kleineren) linken Parteiflügel begründete. Die extremsten Vertreter der ASP wiesen darauf hin, es habe sich bei den zwei Scharlatanen, die die Schwerkraftlüge in die Welt gesetzt hatten, nicht zufällig um einen Engländer und einen Juden gehandelt. Sie plädiere dafür, den Begriff “jüdische Physik” wieder einzuführen, sagte Ulrike, der sei ja noch nicht deshalb falsch, weil die Nazis ihn missbräuchlich im Munde geführt hätten. Mit dieser Äußerung stieg Ulrike umgehend zur Parteivorsitzenden auf, und bei der nächsten Bundestagswahl holte die ASP 15,7 Prozent.

Damit ließ sich die ASP nicht mehr ignorieren. Immer mehr Abgeordnete dieser Partei wurden in Talkshows eingeladen und auf Titelseiten von Magazinen abgebildet; angesehene Zeitungen luden ASP-Anhänger ein, ihre Thesen zu erörtern. Im Namen der Meinungsfreiheit sorgten Herausgeber und Chefredakteurinnen für strikte Ausgewogenheit: Artikel von sogenannten Schwerkraftpropagandisten wurden nur noch dann veröffentlicht, wenn auch Gegner der Gravitationstheorie zu Wort kamen. Physikprofessoren, so hieß es in Redaktionskonferenzen, hätten kein Recht, anderen Menschen zu diktieren, was sie zu glauben hätten. Das sei undemokratisch. Alles müsse bezweifelt werden, auch die Naturwissenschaften; die eine absolute Wahrheit existiere nicht, alle Wahrheiten seien im Kern soziologisch bedingt.   

Keine Diskriminierung!

Danach ereignete sich der Zwischenfall mit Flug 911. Die Maschine war gleich nach dem Abheben in ein Rübenfeld in der Nähe des Flughafens gestürzt, niemand hatte überlebt. Die Ausweitung des Flugschreibers ergab, dass es sich bei beiden Piloten um ASP-Mitglieder gehandelt hatte. Um die These zu beweisen, dass es sich bei der Gravitation um eine Illusion handle, hatten sie versuchsweise die Flugzeugmotoren ausgeschaltet, sobald sie in der Luft waren. Danach fingen die Fluggesellschaften an, unter ihren Piloten Gesinnungsprüfungen durchzuführen, um herauszufinden, ob sie an die Schwerkraft glaubten oder nicht. Naturgemäß klagte die ASP dagegen. Der Prozess schaffte es bis vors Bundesverfassungsgericht, und das oberste Gericht gab der ASP recht: Weltanschauliche Gründe dürften bei der Einstellung von Flugpersonal keine Rolle spielen.

Dieses Gerichtsurteil hatte weitreichende Folgen. Nicht nur machten mehrere Fluggesellschaften pleite — nur Menschen mit sehr starken Nerven trauten sich danach noch an Bord eines Flugzeuges —, die ASP suchte sich ein neues Ziel für ihre Kampagne: die Bauindustrie. Das war nur logisch, denn Bauvorschriften ergaben überhaupt nur dann Sinn, wenn man ihnen die Annahme zugrundelegte, dass so etwas wie eine Kraft existiert, die Gebäude zum Einsturz bringen kann. Der Wegfall jener Annahme bedeutet, dass es sich bei Bauvorschriften um tyrannische Anweisungen von selbsternannten Autoritäten handeln muss. Und das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgericht hatte ja gerade eben bestätigt, dass Leugnung der Schwerkraft ein Menschenrecht sei. So zogen nun Demonstrantinnen und Demonstranten zu Hunderttausenden durch die Innenstädte; viele von ihnen hatten sich gelbe Sterne angesteckt. “Freiheit!”, stand auf ihren Transparenten. Eine alternde Schlagersängerin rief vor einer Menschenmenge in die Mikrophone: “Bauvorschriften sind Bolschewismus!” Ein ehemaliger Nachrichtensprecher verglich die Herrschaft der Baubehörden, die ja schließlich niemand gewählt habe, mit der Herrschaft der Nazis. Da die ASP bei der nächsten Bundestagswahl auf 18,7 Prozent kam, sahen sich die anderen Parteien zu Kompromissen genötigt; als Folge wurden die Bauvorschriften extrem gelockert, wenn auch nicht gänzlich abgeschafft. Dann kam es zum großen Erdbeben von 20xx. Zwei Drittel von Berlin lagen hinterher in Trümmern, die genaue Zahl der Opfer ist wegen der nachfolgenden Ereignisse bis heute unbekannt.

Ein Deep Fake für Prof. Leuchtentrager

Natürlich führte das Erdbeben keineswegs dazu, dass die ASP von der politischen Bühne verschwand — im Gegenteil. Schnell verbreitete sich das Gerücht, das Erdbeben habe in Wahrheit gar nicht stattgefunden. Es handle sich um eine Inszenierung der regierungstreuen Mainstreammedien. Diese Behauptung erschien vor allem deshalb glaubwürdig, weil zu den Toten auch Prof. Dr. Leuchtentrager gehörte: Ulrike, die ASP-Vorsitzende, sagte in einer Talkshow, ganz offenbar sei er von den Strippenziehern der Wall Street umgebracht worden. Bald galten Angehörige der Verschütteten als Schauspieler, die engagiert worden seien, um die ASP in den Schmutz zu ziehen. Bei den Beerdigungen der Erdbebenopfer versammelten sich Demonstrantinnen und Demonstranten mit Clownsnasen und Trompeten, die “Buh!” riefen und ihre Megaphone benutzten, um die Trauernden kräftig auszulachen. Ein Mann, der behauptete, während des Erdbebens seine Töchter verloren zu haben, wurde von aufgebrachten ASP-Anhängern aufgeknüpft.

Nun wandte die ASP sich ihrem nächsten Thema zu — der Wasserkraft. Bekanntlich machen sich Wasserkraftwerke die Schwerkraft zunutze, indem herabstürzendes Wasser über Turbinen fließt, die Strom erzeugen. Aber wenn es die Schwerkraft gar nicht gibt, muss etwas Anderes und Unheimliches dahinterstecken. “Wasserkraft? Nein danke”, stand bald auf den Ansteckern der ASP. Ulrike, Holger und Brunhilde wiesen im Namen der Partei darauf hin, dass Wasserkraftwerke zu ungeheuren Verlusten an Menschenleben geführt hatten. Der verbrecherische Luftangriff der Briten auf die Möhntalsperre im Ruhrgebiet habe 1943 den Tod von circa 1600 Menschen bewirkt. Noch schlimmer waren die Folgen, als 1975 der Banqiao-Staudamm in China brach — vielleicht wurden 240.000 Menschen weggeschwemmt. Die Einwände der Wasserkraftbefürworter, hier handle es sich um Einzelfälle, und heute würden Dämme sicherer gebaut, überzeugten niemanden. Auch die Befürworter von Wasserkraftwerken konnten nämlich nicht leugnen, dass es sich bei H2O um eine gefährliche Substanz handelt, die, wenn man sie einatmet, zu einem qualvollen Tod führt. Bei Staudämmen handle es sich um eine unbeherrschbare Technik, verlautbarten die Sprecher der ASP, vor allem deshalb, weil bis dato niemand wisse, wie damals die Katastrophen eigentlich zustande gekommen seien. Die Schwerkraft könne jedenfalls nicht schuld gewesen sein. So beschloss das Parlament den Ausstieg aus der Wasserkraft; im Frühjahr 20xx wurde der letzte Stausee trockengelegt.

Wasserausstieg

Ein paar Monate darauf wurde der erste Physikprofessor gesteinigt. Ein ASP-Mitglied hatte sich in eine seiner Vorlesungen gesetzt und mitgeschnitten, wie der Professor die spezielle Relativitätstheorie vorstellte, die Gravitation als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit beschreibt. Die Wut der Internetgemeinde kannte keine Grenzen. Immer noch maßten Leute sich an, die Schwerkraftlüge zu verbreiten und sich über das gemeine Volk zu erheben, als seien sie etwas Besseres. Eine Woche später erklärte die ASP eine Physikprofessorin, die häufig im Fernsehen auftrat, zur Volksfeindin — sie hatte erwähnt, dass Bauvorschriften eine solide wissenschaftliche Grundlage besäßen und Flugzeuge bei abgeschalteten Motoren nicht besonders gut fliegen. Das sei eine Frechheit, erklärten Ulrike, Holger und Brunhilde: Eine Wissenschaftlerin habe nicht das Recht, sich zu politischen Themen zu äußern, das verstoße gegen das Neutralitätsgebot. In der Folge mussten Physiker im ganzen Land in Schutzhaft genommen werden, um sie vor dem gerechten Volkszorn zu schützen. Im nächsten Schritt wurden die Bibliotheken von den Schriften von Newton und Einstein gesäubert, dann ging es auch den Biologen und Mathematikern an den Kragen, und so begann jene in manchen Gegenden des Planeten (Nordeuropa; Mittelamerika) immer noch andauernde Epoche, die von den Fachhistorikern ins Früh-, Mittel- und Spätdelirium eingeteilt wird.