Es zeugt nicht von Charakterstärke, wenn man eine Strauchelnde noch verspottet. Auch wenn sie eine Partei ist. Auch wenn es die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist. Warum ihr vielmehr gerade unsere Wertschätzung gebührt.

Mein Vater war Sozialdemokrat. Er war nie Mitglied der Partei, aber wenn man ihn gefragt hätte, wen er wählen, wem er politisch vertrauen würde, dann hätte seine Antwort geheißen: der SPD. Da gab es keine Zweifel. Schließlich stammte er aus einem Arbeiterviertel (Köln-Kalk), und als Konsequenz aus Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg konnte er nur für eine bestimmte Partei Sympathie besitzen, eine Partei, die nie den Anstand verloren hat, selbst in schwersten, in dunkelsten Zeiten.

Mein Vater war Polizeibeamter. Das war neben der idealistischen Seite quasi der materialistische Grund, ein SPD-Wähler zu sein. Als zu Zeiten der Großen Koalition Mitte der sechziger Jahre der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland so richtig Fahrt aufnahm, da war es die Sozialdemokratie, die die Staatsdiener nicht vergaß und dem öffentlichen Dienst kräftige Gehaltsaufschläge bescherte. So zog ein bescheidener Wohlstand in unseren Haushalt ein. Und nicht nur in meiner Familie. Das war sicherlich auch ein Grund dafür, dass die SPD im Jahre 1969 zum ersten Mal nach dem Krieg mit Willy Brandt den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland stellte.

Durch das Godesberger Programm von 1959 hatten die Sozialdemokraten ihre letzten sozialistischen Wurzeln gekappt – sie war damit endgültig zu einer Reformpartei geworden, die ihren Frieden mit dem Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie gemacht hat. Aber sie war auch immer schon Staatspartei gewesen, staatstragend und staatsgläubig. Mit Hilfe des Staates sollte den „Springquellen des Reichtums“, den Arbeitern, ihr Anteil am Wohlstand vergolten werden. Zu den Arbeitern hatten sich Beamte und Angestellte gesellt, nur mit den Bauern sind die Sozialdemokraten nie warm geworden. Es gab also gute Gründe, sich mit solch marxistischem Firlefanz wie dem „Absterben des Staates“ nicht weiter abzugeben. Dafür fiel vom Aufstieg des Kapitalismus einfach zu viel ab für die eigene Klientel und die allgemeine Wohlfahrt.

ERDE STATT HIMMEL

Vielleicht ist es vor allem dieser Erfolg der Sozialdemokratie und ihr unbedingter Wille, ein Stück vom Himmel jetzt und nicht erst bei Erreichen des kommunistischen Sankt Nimmerleinstages zu verteilen, der ihr so viele Feinde auf der linken, der chiliastischen Seite der Weltverbesserer eingebracht hat und den ständigen Vorwurf von Verrat. Man kann der Sozialdemokratie alles Mögliche vorwerfen, aber nicht, dass sie je den Kontakt zur Erde, zum Machbaren, verloren hätte. Selbst wenn sie „Bildung für alle“ oder „Kultur für alle“ forderte. Dass ging zwar in der Bildung – die Kultur erwies sich als widerstandsfähiger – mit einer gehörigen Portion Nivellierung einher, aber es beförderte doch zunächst auch einen sozialdemokratischen Widerstandsgeist beispielsweise bei meinen Eltern, die dem Rat der Schule, mich auf die Hauptschule zu schicken, für keine Sekunde plausibel bzw. akzeptabel hielten und mich wie selbstverständlich auf dem Gymnasium anmeldeten.

Ich bin selbst zwölf Jahre Mitglied dieser Partei gewesen – ist schon länger her – und habe es genossen, mit Menschen außerhalb meines Studentenmilieus zusammenzusitzen. Ich konnte erleben, was das ist: eine Volkspartei. Wo tatsächlich Arbeiter, Angestellte, Beamte, Selbständige, Schüler und Studenten zusammenkommen, um die Welt bei sich zuhause, aber auch in der Ferne etwas besser zu machen. Es gibt vielleicht keine bessere Schule für den Citoyen. Damals ging es gerade los an den Universitäten, dass der Poststrukturalismus erklärte, man müsse alles dekonstruieren – selbst den Grund, auf dem man stehe. Am Ende kommt dann eine Bambi-Politik heraus mit Safe Spaces und Sprechverboten und soziokulturellen Blasen. Zu meiner Zeit war die SPD gegen diese Dinge noch immun. Aber ein wenig von diesem Geist ist letztlich auch bei der SPD gelandet, ohne dass es ihr gut tat. Aber Ende der siebziger Jahre hat sie einen entscheidenden Fehler gemacht: Sie hat die andere Springquelle des Reichtums nicht beachtet, obwohl warnende Stimme deutlich zu vernehmen waren. Die Rede ist von der Natur, die rücksichtslos und auch zum Schaden des Menschen ausgebeutet und verheert wurde und wird. Damit verlor sie ein ganzes Milieu, das sich gerade bildete und das man als „postmateriell“ nicht falsch beschreibt und die Grünen ins Leben rief.

DIE ERZIEHERIN

Warum ich das alles erzähle? Weil die Sozialdemokratie nach ihrer langen Geschichte nun darnieder liegt wie ein Weizenfeld, über den ein Sturm gefegt ist. Und ich erzähle es, weil sie doch große Kanzler hervorgebracht hat, die in schweren, ideologisch aufgewühlten Zeiten die richtigen Worte fanden und das Richtige taten. Weil sie sich lange in der Königsdisziplin der Politik verstand: in der Bewahrung der Freiheit und der Schaffung von Sicherheit und Wohlstand. Weil sie nicht der „Reparaturbetrieb“ des Kapitalismus war, sondern seine Erzieherin, die es lange Zeit schaffte, den wilden Flegel halbwegs an die Kandare zu nehmen und ihm zu zeigen, wo die Grenzen sind und was Anstand ist – nur um dann auf solche Taschenspielertricks des Neoliberalismus wie Cross Border Leasing hereinzufallen. Ich erzähle es, weil sie nun, obwohl sie gebraucht wird, nicht mehr die Kraft und anscheinend auch den Willen verloren hat, den Finanzkapitalismus mit seiner Rumpelstilzchen-Ökonomie zu bändigen, die aus Stroh Gold für eine kleine Clique spinnt. Weil sie auch sonderbarerweise die Deutsche Einheit nicht richtig wollte und seit vielen Jahren nur noch falsche Personalentscheidungen trifft. Weil sie von den Vereinigten Staaten von Europa spricht, obwohl im Moment kein Land in der EU aufgehen, sondern nur Teil der EU sein will. Weil sie so linkisch, desorientiert, instinktlos, unbeholfen und widersprüchlich wirkt. Weil keine Partei auf Nachsicht oder einen Bonus zählen kann – denn wenn sie nicht mehr gebraucht wird oder das falsche Angebot auf dem Markt der Politik macht, dann muss sie auch abtreten.

Aber das ist es nicht wirklich, warum ich das alles erzähle. Ich erzähle das alles, weil wir alle – dieses Land und ihre Menschen – der alten Tante SPD sehr viel zu verdanken haben. Sehr viel. Und das sollte letztlich auch einmal gesagt sein.