Ein Rätsel: Warum ausgerechnet sonst so nüchtern abwägende Liberale sich als Gegner der Widerspruchslöung zur Organspende positionieren.

Jens Spahn schlägt vor, Organspenden wie in praktisch allen zivilisierten Nachbarländern per Widerspruchslösung zu regeln, am Donnerstag wird ohne Fraktionszwang im Bundestag abgestimmt. Kaum setzt sich der Gesundheitsminister mal für eine Minderheit ein, der er nicht selbst angehört, schon erntet er Widerspruch aus allen Richtungen. Die Evangelische Kirche Deutschlands nimmt auch diese Gelegenheit dankbar wahr, ihre Überflüssigkeit zu demonstrieren und zeigt sich keine Sekunde zeitgemäßer als das katholische Original, das durfte man erwarten. Dass aber aus dem liberalen Lager prominente Gegenrede zu vernehmen ist, verwundert schon eher.

 

Es gibt wenige politisch-ethische Fragen, bei denen der Graubereich kleiner ist als diese.

Rein utilitaristisch betrachtet bedeutet die Zustimmungslösung anstelle der Widerspruchsregelung, dass Menschen vermeidbar leiden und sterben. Womit man das Kapitel schließen könnte.

Sinngemäß liest man auf Twitterkonten, deren Reichweite auch ohne Verlinkung groß genug ist, dass Spahns Vorschlag angewandter Sozialismus sei, da der Verstorbene seiner Organe enteignet würde. Darauf antwortet Epikur:

Solange wir da sind, ist [der Tod] nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.

Das Subjekt, dem etwas „genommen“ werden könnte, existiert zu dem Zeitpunkt nicht mehr. Wer daran glaubt, dass eine unsterbliche Seele weiterexistiert, dem sei dieser Trost gegönnt. Dann gibt es genau zwei Gründe, die gegen eine Spende sprechen:

  • 1. Die Seele hört wie zu Lebzeiten auf religiöse Autoritäten, die ihr klargemacht haben, dass eine Spende abzulehnen ist und möchte dies nicht hinterfragen.
  • 2. Der Seele ist das Leid ihrer fleischlichen Mitmenschen über den Tod des eigenen Körpers hinaus egal. Mit dieser Seele würde ich zu Lebzeiten bitte eher kein Bier trinken gehen und wenn möglich post mortem die Unendlichkeit in einem anderen Raum als sie verbringen.

Ansprüche haben völlig legitim die Hinterbliebenen in ihrer Trauer. Und grade denen würde mit der Widerspruchslöung enorm geholfen werden. Wer etwa aus religiösen Gründen eine Organspende rundheraus ablehnt, wird sich ganz gewiss schon heute die Mühe machen, dies festzuhalten. Mir persönlich ist es zwar nicht nachvollziehbar, aber ich kann mir abstrakt vorstellen, dass Trauernde aus anderen Gründen Probleme mit der Vorstellung haben, einem geliebten Menschen, der eben erst verschieden ist, Organe entnehmen zu lassen. Wenn die Hinterbliebenen schlicht keine Ahnung haben, wie der potentielle Spender entschieden hätte und in ihrer Überforderung im Zweifel gegen eine Entnahme entscheiden, ist denen das zunächst nicht vorzuwerfen. Wer kann schon klar denken in so einer Situation? Nur ist die Wahrscheinlichkeit gar nicht so gering, dass sie irgendwannmal jemandem begegnen, der auf ein Spenderorgan angewiesen ist. Und dann sehr deutlich vor Augen geführt bekommen, welches Verdikt sie mit ihrer Entscheidung gegen die Entnahme gefällt haben. Die Hinterbliebenen müssen also lange damit leben, in einer Extremsituation entschieden zu haben, Mitmenschen vermeidbares Leid und Tod nicht erspart zu haben.

In meiner benevolenten Diktatur gelte selbstverständlich die Widerspruchslösung. Der Widerspruch muss aber im Beisein mindestens dreier willkürlich ausgeloster EmpfängerkandidatInnen aller Bedürftigkeitsstadien erfolgen.

Und dann ist da noch dieses zutreffende Argument für all jene, die sich Gedanken zum Thema gemacht haben, sich aber regelmäßig ohne Schlüssel, Handy oder Geld wiederfinden: