Was bringt dem Stahlkocher aus Kentucky seinen Stolz zurück? Unser Autor hat eine Idee: Klassiker statt Breitbart lesen. Ein (sehr optimistischer) Blick in die ganz nahe Zukunft.

Höchste Zeit, über den ehemaligen Stahlkocher aus Kentucky nachzudenken. Früher einmal hatte der Mann (stellen wir ihn uns vierschrötig vor, mit Bierwampe und Tätowierungen) einen Job, schon seit vielen Jahren hat er keinen mehr. Morgens fährt er seine Frau zur Arbeit. Sie hat die Wirtschaftskrise – wie so viele amerikanische Frauen – besser überstanden als er. Sie arbeitet in einem Callcenter. Der ehemalige Stahlkocher würde dort nie eine Anstellung finden: Seine Stimme ist rau, er klingt nicht verbindlich, er würde in dieses Ambiente ungefähr so gut hineinpassen wie ein Bulle in einen Porzellanladen. Also fährt er wieder nach Hause, nachdem er seine Frau abgesetzt hat, dann hockt er sich vor den Laptop und spielt ein paar Videospiele. Dann googelt er sich durchs Internet. Er findet dort Webseiten, auf denen steht, dass Hillary Clinton heimlich Kinderpornos drehen lässt, dass jeden Tag Millionen von Muslimen illegal ins Land strömen, die Terroranschläge planen, dass jüdische Bankiers insgeheim in Washington die Fäden ziehen, und ihm schwillt der Hals. Selbstverständlich hat der ehemalige Stahlkocher aus Kentucky Donald Trump gewählt. Wen denn sonst? Trump ist sein Held. Trump wird Amerika wieder groß machen und die Jobs wiederbringen, die, so glaubt er, nach China ausgewandert sind.

Aber in Wirklichkeit sind die Jobs natürlich gar nicht nach China gewandert, sondern nach Texas. Oder ins Nichts. Sie sind schlicht überflüssig geworden; oder sie werden jetzt von einem Mikroprozessor ausgeführt. Und darum ist es höchste Zeit, über den ehemaligen Stahlkocher aus Kentucky nachzudenken: Es gibt Leute – keine Spinner, sondern Wissenschaftler, die in Stanford oder Harvard forschen –, die ausrechnen, dass an die fünfzig Prozent der amerikanischen Jobs bald von Computern oder Robotern erledigt werden, und zwar nicht in dreißig, sondern in fünf bis zehn Jahren. Gewiss, solche Veränderungen hat es früher auch schon gegeben, sie sind nichts Neues. Denken wir daran, dass vierzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung einmal in der amerikanischen Landwirtschaft beschäftigt war. Dann kam der Traktor, der Mähdrescher, die elektrische Melkmaschine, und heute ernähren ein bis zwei Prozent der Amerikaner 320 Millionen Menschen. Aber jetzt hat die Veränderung eben einen gewaltigen Zahn zugelegt. Wir sind an einem Punkt, wo die zweite industrielle Revolution alles von unten bis oben durcheinanderwirbelt. Und das ist einer der Gründe, warum die liberalen Demokratien heute so in Bedrängnis geraten wie seit den Dreißigerjahren nicht mehr.

Negative Einkommensteuer oder Bürgergeld?

Was können wir für den ehemaligen Stahlkocher aus Kentucky tun? Das erste ist ganz einfach: Wir können endlich anfangen, ernsthaft über Dinge wie ein Bürgergeld oder – wenn man es lieber mit Milton Friedman hält – eine negative Einkommenssteuer nachzudenken. Denn das ist klar: Wenn morgen oder in drei Tagen die Hälfte der Bevölkerung arbeitslos wird, bricht das herkömmliche Sozialsystem ächzend zusammen. Es wird also Zeit, dass nicht mehr nur ein paar Wirtschaftsfachleute über die Einführung eines Bürgergelds oder einer negativen Einkommenssteuer nachdenken, sondern alle. Eigentlich sollte auf sämtlichen Fernsehkanälen über kaum etwas anderes geredet werden. Allerdings löst dies nicht das Hauptproblem.

Dieses Hauptproblem besteht darin: Der ehemalige Stahlkocher war STOLZ auf seinen Job. Er hat einen guten Teil seines Lebenssinnes darin gesehen, dass er diesen eintönigen, schwierigen und gefährlichen Beruf ausübte. Dieser STOLZ – auf griechisch: θυμος – ist jetzt weg. Weniger höflich ausgedrückt: Unser Stahlkocher, der jeden Morgen seine Frau zur Arbeit fährt, fühlt sich wie ein Mann ohne Eier. Darum sein Hass auf Hillary Clinton, diese «bitch», die er gern eingelocht sähe, und sein beifälliges Gelächter über Trumps sexistische Witzchen (endlich sagt es mal einer!). Wie nehmen wir dem Stahlkocher seine Wut, wie geben wir ihm seinen thymos zurück?

Unter uns: Ich habe keine Ahnung. Ich habe nur eine Idee.

Allerdings ist diese Idee verrückt, denn sie bedeutet, dass wir 2500 Jahre abendländischer Kulturgeschichte, die mit Hesiods «Werken und Tagen» beginnt, auf den Kopf stellen. Seit Hesiod gilt, dass es den Charakter bildet, fleißig zu sein; Dass es sich nicht gehört, auf der faulen Haut zu liegen. Wir müssten – aber wie? wie? – ein neues kulturelles Ethos schaffen, dass Faulheit vollkommen in Ordnung ist. Der ehemalige Stahlkocher aus Kentucky müsste lernen, dass es ihn nicht seiner Männlichkeit beraubt, wenn er sich von nun an damit beschäftigt, hinter dem Haus einen Garten anzulegen, in dem er Tulpen züchtet. Oder dass es eine ehrenvolle Tätigkeit ist, sich aus der Stadtbücherei die «Recherche» von Proust auszuleihen, sich auf dem Liegestuhl auszustrecken und nach einem gewissen anfänglichen Erstaunen – «What kind of shit is this?» – durch alle sieben Bände durchzulesen. Wir müssten uns einen ehemaligen Stahlkocher vorstellen können, der sich abends in der Kneipe mit Freunden trifft und ein Gespräch mit folgenden Worten beginnt: «Kollegen, ihr ahnt gar nicht, was mit Swann am Ende seiner langen, unglücklichen Liebschaft mit Odette de Crécy passiert. Er heiratet das Miststück!» (Ich kann mir das übrigens sehr gut vorstellen. Ich wurde mal von einem sympathischen Chauffeur durch die Hügel von Vermont gefahren, der alle Klassiker kannte. Alle. Zur Zeit der Wirtschaftskrise, also 2008, erzählte er mir, hockte er zu Hause herum und hatte nichts zu tun. Dann fing er an zu lesen. «Ich war nie auf dem College», sagte er, «deswegen waren diese Bücher mir nie durch irgendwen verdorben worden.» Er schwärmte mir vom «Don Quijote» vor: «Dieses Buch ist ja so witzig! Ich habe Tränen gelacht!» Am Ende machte er mir eine Liste von Sachen, die ich unbedingt mal lesen müsste, unter anderem «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch».)

Es warten postmoderne Tyrannei und verheerende Kriege

Es geht also um eine neue Kultur der guten, der nicht ehrenrührigen Faulheit – und um die Pflege von Hobbies. Was wir brauchen: Horden von Arbeitslosen, die sich in Zirkeln zusammenfinden und gemeinsam Landschaftsaquarelle anfertigen. Oder Kurzgeschichten schreiben. Oder ihren Lebenssinn darin finden, mit ihren Kindern campen zu gehen. Oder professionelle Kochkurse besuchen – nicht, weil sie ein Restaurant eröffnen, sondern weil sie für ihre Familien poulet à la bretonne auf den Tisch zaubern wollen. Ich weiß, das ist unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher gehen wir einer dunklen Zeit der postmodernen Tyrannei und verheerenden Kriege entgegen. Einer Zeit der Unordnung, wie sie, sagen wir, den Übergang von der Yuan- zur Ming-Dynastie kennzeichnete. Der tröstliche Gedanke: Am Ende wird die liberale Demokratie auf neue Art, irgendwie, evolutionär oder revolutionär, wieder auferstehen, und hinterher wird es keine – im marxistischen Jargon zu sprechen – entfremdete Arbeit mehr geben. Allerdings gilt das nur für jene Glücklichen, die die vor uns liegende Epoche der Dunkelheit überleben.

Höchste Zeit also, über den ehemaligen Stahlkocher in Kentucky nachzudenken.