Deutsche Diskussionen um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine leiden verstärkt an Experten ohne Expertise und Tatsachenverweigerung, die als kritische Haltung getarnt wird. Ein Plädoyer für eine Debattenkultur der Fakten und der Deutlichkeit.

Seit dem 24. Februar 2022 lässt sich in den öffentlichen Debatten in Deutschland über die Ukraine und Russland beobachten, dass die eindeutig anti-ukrainischen Narrative, die schon seit 2013/14 in gewisser Hinsicht dominierten, inzwischen eher in die Defensive geraten sind. Bis auf Hardliner wie Sahra Wagenknecht und einige andere Gestalten der Linken, sind diejenigen vorsichtiger geworden, die Russland eigentlich in der Rolle des Reagierenden und den „Westen“ als den eigentlich Verantwortlichen für den gegenwärtigen Angriffskrieg sehen. Die verlorenen Seelen, die immer noch etwas vom „faschistischen Coup“ in Kyjiw erzählen, kann man getrost ignorieren. Die Herausforderung sind diejenigen, die nun behaupten es ginge ihnen um „Grautöne“, die auf die „komplexe Lage“ hinweisen möchten oder, vom eigentlichen Thema ablenkend, die „Diskussionskultur“ kritisieren. Dazu bemerkte der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller am 11. Juni auf Twitter: „Wenn Kommentatoren genau in dem Moment, wo ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg beginnt, Bomben fallen, vergewaltigt, deportiert, gehungert wird, ihre Liebe zu ‚Grauzonen‘, ‚Differenzierung‘ und ‚Komplexität‘ entdecken, dann weiß man, um was für eine Klientel es sich handelt.“

Es ist Gott sei Dank schwieriger geworden, offen zu sagen, dass man eigentlich mit Putins Russland sympathisiert. Aber auch auf Menschen, die nicht zur Verteidigung des Putins neigen, kann der Ruf nach einer „differenzierten Betrachtung“ erst einmal einleuchtend klingen. Einige Schieflagen der deutschen Debatte haben tatsächlich nicht unmittelbar mit Ignoranz, einem kolonialen Blick auf die Ukraine und der Affinität zu einem autoritären Russland (obwohl das eine große Rolle spielt) zu tun, sondern mit bestimmten Eigenheiten unserer Debattenkultur, die eigentlich eine Stärke sein könnten, tatsächlich aber oft zu einer Schwäche werden und unseren Blick verstellen. 

DIE DEUTSCHE LUST AM UNEINDEUTIGEN

Dazu gehört die Vorstellung, dass es „Grautöne“ geben muss, nur Schwarz-Weiß kann nicht sein, alles hat zwei Seiten. Erstmal ist es gut, viele Perspektiven einzubeziehen, bevor man zu einem Urteil kommt. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht zu dem Schluss kommen kann, dass hier eine eindeutige Situation vorliegt: Ein friedliches Land wurde von einer imperialen Diktatur angegriffen – und zwar schon 2014! Bezeichnenderweise waren sich die meisten deutschen Journalist:innen mit Osteuropa-Expertise – zu nennen wären da u.a. Alice Bota, Konrad Schuller, Golineh Atai, Julian Hans und Simone Brunner – in diesem Punkt bereits 2014 genauso einig wie über die Tatsache, dass der Majdan in Kyjiw eine zivilgesellschaftliche Bewegung für mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit war, bei der die radikalen Rechten durch ihre Gewaltbereitschaft zwar zunehmend einflussreicher wurden, aber zu keinem Zeitpunkt in der Mehrheit waren. Russland dagegen charakterisierten sie völlig zu Recht als ein zunehmend aggressiver agierendes autoritäres Regime. Nun könnte man diese Eindeutigkeit der Berichterstattung als Ausweis deuten, dass die meisten Journalist:innen in der Lage sind, einen Aggressor von einem Opfer zu unterscheiden. Eigentlich könnte es einen beruhigen: dass dieser Konsens unabhängig davon besteht, ob man für die taz oder die FAZ arbeitet. In Deutschland stieß aber die eindeutige Beurteilung der Lage bei einigen auf tiefes Misstrauen. Das führt zu einer geradezu fieberhaften Suche nach „Fehlern“ bei der Ukraine und Entschuldigungen für das Agieren Russlands. Jede Person, die in den letzten Jahren Veranstaltungen zur Ukraine oder Russland organisiert oder daran teilgenommen hat, wird bestätigen können, dass die Fragen aus dem Zuschauerraum oft irritierend waren. Im Hinblick auf die Ukraine ginge es um das (nicht-existierende) Verbot der russischen Sprache, um die dortige Korruption, um radikale ukrainische Nationalist:innen, um den angeblichen Einfluss der USA – kurz um Verkürzungen und Stereotypen, die die ukrainische Gesellschaft diskreditieren sollten. Ging es um Russland, kamen freilich andere Fragen: Trug die Verantwortung für die „Ukraine-Krise“ nicht doch eigentlich der „Westen“, allen voran die NATO und die USA? Sei es nicht immer noch so, dass Russland und Putin ständig „von den Medien dämonisiert“ würden? Habe nicht Deutschland eine besondere Verantwortung, auf Russland zuzugehen? Fragen zum Tschetschenien-Krieg, zu den ermordeten russischen Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen waren dagegen eher selten. Auch die massiven Versuche der russischen Einflussnahme in der Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit und besonders im Zuge des Majdan erregten kaum Interesse. 

Dabei trat etwas zu Tage, was in Westeuropa schon während des Kalten Kriegs zu beobachten war: zum einen die Unfähigkeit, aus der relativ bequemen Perspektive der liberalen Demokratie die Perspektive einer unterdrückten Zivilgesellschaft einzunehmen, zum anderen die tiefe Überzeugung, dass die Wahrheit doch immer irgendwie zwischen den beiden Polen liegen müsse. In einem anonymen Aufsatz in Krytika, einer Zeitschrift der polnischen oppositionellen Solidarność, wurde 1984 genau über diese Frage nachgedacht. Warum fiel es vielen, gerade der westeuropäischen Linken, so schwer, sich mit der polnischen Gewerkschaftsbewegung im Kampf gegen einen autoritären Staat zu solidarisieren? Sie begriffen nicht, so der/die Verfasser/in, dass sie es hier nicht mit dem für westliche Gesellschaften üblichen Widerstreit zwischen „Regierung“ und „Opposition“ zu tun hatten, sondern mit dem Kampf gegen den Totalitarismus. Westliche Beobachter:innen hätten sich einem „Objektivismus“ verschrieben, demzufolge die Wahrheit stets „irgendwo in der Mitte“ liege und verkannten dabei, in welchen Realitäten sich osteuropäische Dissident:innen bewegten. 

Ähnliches lässt sich noch heute in Bezug auf Russland und die Ukraine beobachten. Damit geht einher, dass implizit an die Ukraine als das eindeutige Opfer der russischen Aggression die Erwartung gerichtet wird, es müsse ein „perfektes“ Opfer sein, um wirklich Solidarität zu verdienen. Das erinnert auf fatale Weise an den leider immer noch verbreiteten Umgang mit Opfern einer Vergewaltigung, in der Regel Frauen. Was hatte sie an? Hat sie getrunken? War sie in einem gefährlichen Stadtteil unterwegs? Wie sah ihr Sexualleben vor der Tat aus? Dieser ohnehin falsche Anspruch wird nun von einigen auf ein Land mit über 41 Millionen Einwohner:innen übertragen. Hat die Ukraine vielleicht nicht doch mit ihrem Gesetz zur Stärkung der ukrainischen Sprache unnötig provoziert? (Wer so eine Frage stellt, hat nichts über Putins Russland und seine Propaganda begriffen.) Und wie war das noch einmal mit Selenskyjs Vermögen und den Panama Papers? (Fragwürdig, aber was hat das mit dem Recht eines Staates auf Selbstverteidigung zu tun?) Und ist das Azow-Regiment nicht doch ein Nazi-Verein? (Ursprünglich vor allem eine von Hooligans getragene Einheit mit sehr vielen Nazis, inzwischen heterogener, in jedem Fall im Blick zu behalten, aber auch sie verteidigen gerade die Ukraine.)

FORSCHUNG GEGEN FALSCHE KOMPLEXITÄT

Mehr über diese und andere Fragen und mögliche Antworten kann man in den Ergebnissen der Osteuropa-Forschung der letzten Jahre erfahren. Es waren und sind genau die Journalist:innen und Wissenschaftler:innen in Deutschland, die sich teilweise seit Jahrzehnten auf diese „Komplexität“ einlassen, unter denen jetzt ein weitgehender Konsens besteht, womit wir es hier gerade zu tun haben. Sei es, die Transformation der ukrainischen Gesellschaft zu erklären, in der post-sowjetische oligarchische Eliten miteinander und mit einer neuen Generation zivilgesellschaftlicher Akteur:innen um Einfluss ringen; seien es die komplizierte Netzwerke zwischen russischen (Ex-) Geheimdienstlern, organisierter Kriminalität und Oligarchen um Diktator Wladimir Putin. Diese Strukturen sind nicht nur „komplex“, es ist auch schwierig, für Russ:innen tatsächlich lebensgefährlich, sie zu rekonstruieren und diese zu veröffentlichen. 

Es ist bezeichnend, dass zwei der wichtigsten Bücher zu Putins Kleptokratie – von der Politikwissenschaftlerin Karen Dawisha und der Journalistin Catherine Belton – nur gegen Widerstände veröffentlicht werden konnten. In beiden Fällen versuchten schwerreiche Oligarchen die „libel laws“ in Großbritannien zu nutzen, um zu verhindern, dass die Ergebnisse der jahrelangen Studien an die Öffentlichkeit gelangten. Es sind wahrlich nicht die Kritiker:innen des Putin-Regimes, die versuchen, eine offene Debatte zu verhindern. Im Gegenteil, durch ihre Forschungen und Enthüllungen haben wir überhaupt eine Grundlage für eine Debatte. Interessanterweise haben die Advokat:innen der „Komplexität“ und der „Grautöne“ diese Forschungen in aller Regel nicht zur Kenntnis genommen. 

EXPERTEN OHNE EXPERTISE

Bemerkenswert ist auch, dass sie ihre Antworten stattdessen bei jenen „Expert:innen“ finden, die sich eher schlichter Erklärungsmodelle bedienen. Ein Beispiel wäre der omnipräsente Politikwissenschaftler Johannes Varwick, der bei seiner Erklärung des russischen Angriffskriegs geradezu verzweifelt an John Mearsheimers Theorie festhält, der zufolge allein Großmächte den Gang der Geschichte bestimmen (dürfen) und dabei ausschließlich von „Sicherheitsinteressen“ geleitet werden. 

Dabei besteht inzwischen auch im Bereich der Internationalen Beziehungen selbst unter der neuen Generation der Neo-Realist:innen weitgehend Konsens, dass die konsequente Ausblendung von innenpolitischen Faktoren, gesellschaftlichen Dynamiken und Ideologie bei der Erklärung von außenpolitischem staatlichem Handeln einer differenzierten Analyse im Weg steht. 

Allerdings wird Varwick von seiner Bonner Kollegin Ulrike Guérot – auch sie beliebt unter den Verfechter:innen einer „differenzierten“ und „nüchternen“ Analyse – noch bei weitem übertroffen, wenn es darum geht, den russischen Totalangriff auf die Ukraine – gelinde gesagt – zu simplifizieren. Guérot zog am 11. März bei einem denkwürdigen Auftritt bei „Talk im Hangar“ allen Ernstes bei ihren „Lösungsvorschlägen“ für den Krieg die Parallele zu ihrem Umgang mit ihren um Lego streitenden Söhnen, als diese sich noch im Kleinkindalter befanden. Man müsse die beiden Streithälse halt einfach trennen „auseinander, is‘ egal wer angefangen hat und jeder in eine Ecke!“. Einen genozidalen Angriffskrieg gegen einen friedlichen Nachbarstaat von einer neo-imperialen Diktatur, die noch dazu über eine der größten Landarmeen der Welt verfügt, mit einer sozialen Situation zu vergleichen, die jeder halbwegs kompetente Teenager in den Griff bekommen würde, das ist einfach ganz schön dumm. Freilich führte das nicht dazu, dass Guérot und ihre dämlichen Vorschläge künftig von den Medien ignoriert wurden, belohnt wurde sie stattdessen mit einer Einladung zu der Talkshow von Markus Lanz im ZDF mit einem Millionenpublikum. Die mehrfach geäußerte Kritik, dass mit Guérot, Harald Welzer und Co. Personen in die Rolle der Expertin bzw. des Experten gehoben wurden, die tatsächlich keine relevante Expertise besitzen, führt ebenfalls zu emotionalen Abwehrreflexen. Dabei ist die Feststellung, dass die Genannten weder eigene Expertise zu Russland und der Ukraine besitzen, noch die relevante Forschung zur Kenntnis genommen haben, schlicht zutreffend und noch dazu empirisch überprüfbar, etwa durch einen Blick auf Publikationen oder Sprachkenntnisse. Festzustellen, dass Guérot keine Russland-Expertise besitzt, ist in etwa so diffamierend, wie bei einem Russland-Experten darauf hinzuweisen, dass er oder sie keine Expertise zu Frankreich besitzt. Freilich besteht auch die Möglichkeit, relativ kenntnisfrei über den Krieg in der Ukraine zu philosophieren, indem man sich von den harten Fakten verabschiedet und sich stattdessen über den Erfolg des „ukrainischen Narrativs“ unterhält, so wie es Florence Gaubon und Harald Welzer neulich in taz Futur Zwei getan haben. Da geht es viel um die schauspielerischen Fähigkeiten von Selenskyj, um die angebliche Dominanz dieses „Narrativs“ zu erklären. Die Tatsache, dass nun endlich auch verstärkt ukrainische Stimmen gehört werden, weil die Situation jetzt derart eindeutig geworden ist, dass russische Kreml-Narrative nicht mehr ganz so leichtgläubig übernommen werden, wird ignoriert. Einmal mehr zeigt, sich in welche unterschiedlichen Welten Deutsche und Ukrainer:innen leben. Die einen philosophieren über „Narrative“ oder „Gut und Böse“, die Ukrainer:innen leben und sterben unter den sehr realen russischen Bombenangriffen. Die Frage nach dem Bösen ist für sie wahrlich keine Frage nach dem „Narrativ“. 

Statt vor diesem Hintergrund bei jeder scharfen Kritik darüber zu lamentieren, dass es in den Diskussionen an „Komplexität“, gegenseitiger Wertschätzung und Respekt mangele, wäre es tatsächlich im Interesse der Debattenkultur, Dummheit Dummheit zu nennen, Inkompetenz Inkompetenz und die Verteidigung eines verbrecherischen Regimes – na, Sie wissen schon.