Es mag gute moralische Gründe geben, jene Personen zu Spitzenkandidaten bei Wahlen zu machen, die den Kriterien der Parteiführungen und Parteitagsdelegierten entsprechen. Doch mit Moral allein gewinnt keine Partei Wahlen.

Wir leben in Zeiten, die derart progressiv sind, dass der woke Wähler ausschließlich in die Zukunft schaut – und das mit dem Urvertrauen eines Dreijährigen, dass schon alles gut werden wird, sofern man die politischen Vorstellungen des juste milieu durch die radikalen Forderungen des woke milieu an den Rand der Geschichte schiebt. Eine Rückschau in die Geschichte scheint da mehr als entbehrlich, erst recht das Lernen aus der Geschichte. Denn was sollte man dort anderes finden als Patriarchat, Ungleichheit, fehlende Geschlechtersensibilität und jede Menge alte weiße Männer. Der unerschütterliche Glauben auf derartig moralisch Fragwürdiges verzichten zu können, scheint eine Sogwirkung zu haben – denn auch in der Mitte wird die Möglichkeit, aus der Geschichte lernen zu können immer weniger genutzt. Ein Beispiel dafür ist der zunehmende Trend, Kandidaten nicht nach Fähigkeiten auszuwählen, sondern nach Proporzen – oder um andere Kandidaten zu verhindern. 

Eines der Beispiele aus der Geschichte, das sich näher zu betrachten lohnt, ist das von Pietro da Morrone. Dieser wurde um 1210 im italienischen Appennin geboren. Als Halbwaise eines Bauern wurde er im Alter von zwölf Jahren in ein Kloster gegeben und später Priester. Bald danach lebte er als Eremit im Einklang mit der Natur. Er sah die Entwicklung der Welt kritisch und im nachhaltigen Umgang mit Gottes Schöpfung den richtigen Weg zu diesem. Schon bald hatte er Jünger um sich geschart und eine Organisation mit strengen Regeln gegründet, die der Vatikan 1274 als Orden anerkannte. Er galt aufgrund seines moralisch einwandfreien Habitus nicht nur seinen Anhängern als Heiliger. Doch die Eliten der Kirche hatten sich in jener Zeit mehr und mehr von den Werten entfernt, die Pietro als die einzig richtige Lebensweise bewahren wollte. 

Nach dem Tod des Papstes Nikolaus IV. im Jahre 1294 konnten sich die Parteien in der Kurie nicht auf einen Nachfolger einigen – auch behindert durch die Auswirkungen einer Epidemie, vor allem aber durch unterschiedliches Verständnis darüber, was eine gute Führung ausmacht. Einige schlugen Kandidaten vor, nur um andere zu verhindern. Der erfahrende Kardinal Benedetto Caetani wäre ein fähiger Regent auf dem Stuhl Petri gewesen, doch er entsprach nicht dem Machtproporz – und so wurde über zwei Jahre hinweg keiner der Kandidaten Papst. Der damals 85-jährige Pietro da Murrone schrieb einen empörten Brief an die nur noch neun verbliebenen Kardinäle und forderte sie auf, sich endlich zu einigen. 

Man kann den Kardinälen des Mittelalters vieles vorwerfen – im vorliegenden Falle aber keine mangelnde Feinsinnigkeit. Bis heute kann jeder Katholik zum Papst gewählt werden, Priester muss er dafür nicht sein und auch kein Kardinal. So wurde Pietro da Morrone zum Papst gewählt – und niemand erschrak darüber mehr als er selbst. Rasch war er von seinem Amt überfordert, das er als Papst Cölestin V. innehatte. Denn für die Lenkung der Weltkirche reichte seine Berufserfahrung als Leiter eines kleinen Ordens nicht. Seine Bildung entsprach nicht den Anforderungen an einen Pontifex und auch sein Latein war rudimentär – die Sprache, in der sich Päpste an ihr Kirchenvolk wandten. Interessierte Kreise der Kurie vermochten ihn so in politischer Abhängigkeit zu halten und zu lenken. Insbesondere Kardinal Caetani, der es bei der vorhergehenden Wahl nicht vermocht hatte, selbst Papst zu werden, ob wohl er alle Voraussetzungen erfüllte, wurde als Lenker Cölestins zum faktischem Herrscher über die Christenheit. Dies wurde immer offensichtlicher, dabei vermochte er aber mehr und mehr Kardinäle von seinen Führungsqualitäten zu überzeugen. 

Aus Erfahrungen unklug

Mitten in der Legislaturperiode, in der Kurie Pontifikat geheißen, begann Caetani den Machtwechsel vorzubereiten. Nach einer Legende soll er immer wieder in der Nacht durch eine geschickt in die Wand zu Cölestins Schlafgemach eingebaute Öffnung gerufen haben: „Lege Dein Amt nieder!“ Cölestin, der dies für eine Eingebung des Heiligen Geistes hielt, befragte seine Kardinäle, ob das Kirchenrecht den Rücktritt von Päpsten ermögliche. Eilfertig berichtete Caetani Cölestin von zahlreichen Präzendenzfällen für Papstrücktritte in der Kirchengeschichte – bei denen jedoch der Sachverhalt deutlich anders lag, in der Regel handelte es sich um Gegenpäpste. 

Cölestin glaubte dem politisch versierten Caetani, erließ eine Konstitution darüber, wie ein Papst abdanken kann und dankte ab – nach nur sechs Monaten im Amt. Nach dem Rücktritt Cölestins V. im Dezember 1294 wurde Benedetto Caetani nach kurzer Beratung des Konklave zum Papst gewählt. Als Bonifaz VIII. gründete der versierte Jurist und erfahrene Kirchenfürst die Universität La Sapienza, die noch heute zu den größten und angesehensten Universitäten gehört. In seinem rund neunjährigen Pontifikat ereigneten sich mehr spannende und interessante Dinge, als eine Netflix-Serie mit sieben Staffeln erzählen konnte. Der Legende nach starb er, weil er eine Beleidigung – eine Ohrfeige des römischen Fürsten Sciarra Colonna – nicht verwinden konnte. 

Was lehrt uns die Geschichte? Beziehungsweise was lehrt sie uns über die Tatsache hinaus, dass tödlich Beleidigtsein kein Privileg der „Generation Beleidigtsein“ im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert ist? Sie lehrt, dass keine Organisation gut beraten ist, einen Kandidaten nur deshalb aufzustellen, weil so ein anderer Kandidat verhindert werden kann. Auch lehrt sie, dass es zu Lasten aller geht, Menschen an die Spitze zu stellen, die nicht die notwendige Erfahrung für ein Spitzenamt haben. Der Idee, dass die Erfahrenen sie aus dem Hintergrund gut lenken können, wurde von der Geschichte immer wieder eine Sackgasse zugewiesen. Sie lehrt daher zudem, dass es seine Tücken hat, die Fähigen von der Macht fernzuhalten – denn am Ende verliert jede so handelnde Organisation auf diese Weise öffentliche Unterstützung. 

Was der Wahlkampf von Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz zu Spitzenkandidaten mit den Machtmechaniken der mittelalterlichen Kurie zu tun haben? Selten waren in einem Wahlkampf so viele Themen dominierend, die so viel zukünftige Macht auf so viel festen Glauben stützen wollten. Insofern darf man glauben, dass sie gar nichts miteinander zu tun haben. In jedem Falle aber wird Politikverständnis nie geringer, wenn man sich mit Geschichte befasst – allein in rund 2.000 Jahren Kirchengeschichte wurden eine Menge Erfahrungen gemacht, aus denen man lernen kann. Betrachtet man das Trauerspiel des gegenwärtigen deutschen Wahlkampfs darf man sich auch etwas wünschen: Tatsächlich fähige Staatenlenker, die durch die Wand zum Schlafgemach mancher Kandidaten, die heute das Spitzenkandidatenamt innehaben flüstern „Leg Dein Amt nieder!“ – und dass diese die Botschaft für eine Eingebung des Heiligen Geistes halten.