Mitten in einer sich anbahnenden Hungerkrise ist Europa auf dem besten Weg, die Produktivität seiner Landwirtschaft drastisch zu reduzieren oder bestimmte Sektoren ganz abzuschaffen. Das soll der Umwelt dienen, Vorbild für die ganze Welt sein und gleichzeitig die Welternährung krisenfest machen – ein weiteres Kapitel einer im Europa um sich greifenden Realitätsverweigerung.

Bei einer so genannten „High-Level“-Veranstaltung des grün geführten Bundesumweltministeriums war am 13. Juni 2022  Erstaunliches zu hören. Gemeinsam mit grünen und linken Mitgliedern des Europäischen Parlaments sowie Vertreterinnen von Anti-Gentechnik-NGOs versuchte das Ministerium, dem einzig geladenen Vertreter der EU-Kommission, Dr. Klaus Berend (Referatsleiter in der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der Kommission), die aus Sicht der Grünen und Linken gefährlichen Folgen moderner Methoden der Pflanzenzucht nahezubringen. Sollte die Kommission es wagen, Pflanzen, die mit Verfahren des Genome Editing erzeugt wurden, nicht der strengen Gentechnikgesetzgebung zu unterwerfen, drohe nichts weniger als der Untergang des Abendlandes.

Befürworter einer Deregulierung der neuen Züchtungstechnologien waren selbstverständlich ebensowenig eingeladen wie Pflanzenzuchtexperten, und um eine Debatte gar nicht erst aufkommen zu lassen, wurden kritische Einwände aus dem Publikum elegant wegmoderiert.

High-Level Plattitüden

Die Wortbeiträge der Gegner moderner Züchtungsmethoden waren wie üblich von verblüffender Unkenntnis und bestechender Einfalt. Man bekam Gelegenheit, die Plattitüden der 1990er Jahre erneut zu hören, einer Zeit also, in der man auch noch gegen Gentechnik in der Medizin zu Felde zog: es gibt keine Erfolge, niemand will das, das nutzt nur den Konzernen, es gibt Alternativen. Wir haben Umfragen!

Es würde zu weit führen, jeden populistischen Unsinn („Bauern werden heute von Konzernen geführt“) hier aufzugreifen, aber ein paar Punkte seien doch erwähnt, weil sie das Niveau der „High-Level“-Veranstaltung charakterisieren.

Der grüne EU-Abgeordnete Martin Häusling, der Gentechnik-Befürworter in der Diskussion mehrfach als „verstrahlt“ abqualifizierte, tat sich damit hervor, zu behaupten, grüne Gentechnik sei nicht rückholbar (lieber Martin Häusling, auch eine durch konventionelle Zucht eingekreuzte Virus-Resistenz ist nicht rückholbar, weil es für das Menetekel des „Auskreuzens“ völlig unerheblich ist, wie das Gen in die Kulturpflanze geraten ist) – wohingegen etwaige schädliche Wirkungen beispielsweise eines Impfstoff, eines Medikaments oder einer Gentherapie, so Häusling weiter, von heute auf morgen durch einen Rückruf beseitigt werden könnten („Zack, Deckel drauf, erledigt!“). Contergan-Opfer dürften das vermutlich anders sehen, aber es waren keine im Publikum.

Des weiteren behauptete Häusling wahrheitswidrig und unwidersprochen, in den letzten 13 Jahren seien seitens der Kommission 650 Millionen Euro in die Gentechnik-Forschung geflossen, „aber kein einziger Euro in Risikoforschung, keiner in ‚wie kann ich eigentlich neue Gentechnik unterscheiden von der alten Gentechnik?‘ – nichts, sondern nur Forschungsförderung.“

Dabei haben sowohl die Kommission als auch die einhzelnenen EU-Staaten die Risiken von gentechnisch veränderten Pflanzen jahrzehntelang mit Millionenbeträgen untersucht. Allein die Kommission hat mindestens 50 Studien zur Sicherheit von GV-Pflanzen finanziert, an denen 400 unabhängige europäische Forschungsgruppen beteiligt waren. Auch die neuen Züchtungstechniken wurden mit EU-Mitteln untersucht. Die sind allerdings nicht zu dem von Grünen und SPD gewünschten Ergebnis gekommen, denn die ernsthafte Forschung konnten die Katastrophenszenarien von Alternativ-Wissenschaftlern, wonach grüne Gentechnik Krebs, Mangelernährung und Autismus auslöst, leider nicht bestätigen.

Feinkostladen der Welt

Einen besonderen Akzent bekam die Veranstaltung durch eine Aussage der SPD-Europaparlamentarierin Maria Noichl, u.a. Mitglied des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Entwicklung. Sie sagte zum Thema Nachhaltigkeit (im Video ab 1:54:10): „Für mich wäre das Nachhaltigste für uns alle, wenn Europa weiterhin das Feinkostgeschäft der Welt bleiben würde. Wir haben die Möglichkeit, mit unseren Flächen das Feinkostgeschäft der Welt zu bleiben.“

Zu dieser Nachhaltigkeit gehört nach Ansicht von Noichl eine möglichst unproduktive Wirtschaftsweise, mit Höfen, die auf moderne Produktionsmethoden weitgehend verzichten, um für die wohlhabenden Gourmets dieses Planeten Premiumprodukte aus weitgehend unberührter Natur zu erzeugen. Noichl: „Wenn man manchmal jetzt hört, dass ukrainische Flächen besonders gebraucht werden, um die Ökolandwirtschaft mit Futter zu versorgen, dann merkt man doch, wie wichtig es ist, wirklich – ich möchte fast sagen, unberührte Natur ist jetzt ein bisserl übertrieben –, aber auf jeden Fall genetisch verändert unberührte Flächen zu haben. Das wäre die Nachhaltigkeit weltweit.“ Wovon der Rest der Welt sich ernährt und wie er seine Kalorien zusammenbekommt, ist der sozialdemokratischen Politikerin offensichtlich gleichgültig.

Sri Lanka als Vorbild

Aber plötzlich erscheint die oft als erratisch betrachtete europäische Landwirtschaftspolitik in neuem Licht. Der „Green Deal“, der u.a. eine Reduktion des Pestizideinsatzes bis 2030 um 50 Prozent vorsieht, ist ebenso wie die bereits seit einigen Jahren laufende Einschränkung der Verwendung von Düngemitteln der Versuch, Europa fit für die Produktion von Luxusgütern zu machen.

Die fruchtbaren Flächen, die Europa dank seiner Lage und Klimazone ohne Bedrohung durch Heuschrecken oder Herbstheerwürmer zur Verfügung hat, sollen gar keinen Beitrag zur Welternährung leisten. Von dieser Verantwortung möchte die EU sich abkoppeln. Im Feinkostgeschäft Europa gibt es dann slow food Fleisch vom täglich massierten europäischen Kobe-Rind, Wurst vom Wolf-gehetzten Wildschwein, mit natürlicher Schwerkraft gewonnenes Olivenöl aus tausendjährigen Hainen, die guten alten Obstsorten, die schon einen Tag nach dem Pflücken die ersten braunen Stellen zeigen und die deshalb mit dem Flugzeug zu den fünf-Sterne-Restaurants New Yorks, Singapurs und Qatars verfrachtet werden müssen, handgesiebten Weizen und erlesenen Wildreis aus der Camargue. Wer mehr wissen will, schaue im aktuellen Manufactum-Katalog oder bei slow food nach.

Kein Wort fiel auf der Veranstaltung von der derzeitigen bereits Jahre anhaltenden Dürre am Horn von Afrika, der noch fortdauernden Heuschreckenplage in Afrika und Nahost, dem Herbstheerwurm, die von Ostafrika bis nach Ostasien die Felder leerfrisst, der TR4-Panamakrankheit oder der Brown Streak Disease, die Grundnahrungsmittel wie Kochbananen und Cassava bedrohen. Stattdessen sorgt man sich in Europa, weil in einem Luftfilter auf dem Brocken nach Monaten des Sammelns kaum nachweisbare Spuren eines zugelassenen Pflanzenschutzmittels gefunden wurden und faselt von großflächiger Verseuchung.

Malthus lässt grüßen

Die Versorgung der Reichen dieser Welt mit Feinkost soll also nach den Vorstellungen von EU-Kommission und Parlament die Zukunft der europäischen Landwirtschaft sein? Steckt dahinter Gedankenlosigkeit, mangelnde Empathie oder gar nüchternes Kalkül? Sind Europas „Green Deal“-Politiker klammheimlich zu der Ansicht gekommen, zur diagnostizierten Überlastung des Planeten zähle auch die schiere Anzahl seiner menschlichen Bewohner? Wie anders ist es sonst zu erklären, dass die EU sich im Angesicht der gerade wegen anhaltender Dürre und der Putinsches Blockadepolitik entstehenden Welthungerkrise dagegen sträubt, in Afrika Düngemittelfabriken zu errichten? Stattdessen möchte die Kommission auf „Alternativen zu Düngemitteln“ verweisen, ein Experiment, das gerade in Sri Lanka katastrophal fehlgeschlagen ist: Statt „Reichtum und Wohlergehen für alle“ gab es dort Hunger und Armut für alle.

Das wäre Bevölkerungspolitik nach dem Gusto von Thomas Malthus, der lehrte, dass eine Bevölkerung, deren Wachstum das der landwirtschaftlichen Produktivität übersteigt, notwendigerweise durch Krieg oder Hungerkatastrophen dezimiert wird, bis sie eine verträgliches Gleichgewicht erreicht. Wie anders ist zu erklären, dass grüne Pressure Groups Pestizide, für deren Anwendung in Europa kein Bedarf besteht (weswegen sie hierzulande wie alle anderen, deren Gebrauch nicht ausdrücklich erlaubt ist, verboten sind), dem globalen Südens verweigern wollen? Das geforderte Exportverbot würde diesen Ländern wichtige Waffen auch gegen die Überträger von lebensbedrohlichen Krankheiten oder Heuschreckenplagen aus der Hand schlagen (oder sie China ausliefern, dessen Industrie keinerlei Skrupel kennt).

Ihnen mathusianisches Denken zu unterstellen, weisen die maßgeblichen linksgrünen Agrarpolitiker, deren Forderungen sich inzwischen die Sozialdemokratie und weite Teile der konservativen Parteien Europas angeschlossen haben, natürlich weit von sich. Ihre Antwort lautet stereotyp, die Welt erzeuge bereits Nahrung im Überfluss für alle, Nahrungsmittel müssten nur besser verteilt werden und die Lebensmittelverschwendung müsse aufhören (wussten Sie übrigens, dass auch weggeworfene Bananenschalen, Kaffeesatz und Teeblätter als vernichtete Lebensmittel gezählt werden?). Außerdem könne man ja die Flächen, die jetzt für den Anbau von Tierfutter genutzt würden, einfach für Gemüse oder Getreide für den menschlichen Verzehr nutzen. Und wenn die Welt erst einmal darauf verzichten würde, Fleisch zu essen, sei das Paradies auf Erden, in dem niemand mehr Hunger leidet, in greifbare Nähe gerückt.

Innovationen? Nein danke!

Daher brauche man auch keine Innovationen in der Landwirtschaft: weder neue Pflanzenschutzmittel noch Präzisionslandwirtschaft noch neue Bewässerungssysteme noch Gentechnik, Genome-Editing, Hybridsorten oder Prä­zisionszüchtung. In Frankreich fordern Kritiker der „industrialisierten Landwirtschaft“ sogar die Abschaffung der Landmaschinen und auch in Deutschland preisen „Aktivisten“ schon das Unkrautzupfen mit der Hand. Die Zauberworte heißen Permakultur, kleinbäuerliche Landwirtschaft (die im globalen Süden grundsätzlich mit Kinderarbeit sowie dem Fehlen von Arbeitsschutz und sozialer Absicherung einhergeht), ätherische Öle gegen Schädlinge, Populationszüchtung und Crowd-Breeding, d.h. Laien sollen Pflanzen züchten und dabei vorzugsweise Methoden der „ökologischen Züchtung“ anwenden, bei der Saatgut und Sämlinge mit eurythmischen Gesten, Tönen von Klangschalen und feinstofflichen, hochpotenzierten Präparaten behandelt werden. Kein Witz leider, dass derlei Projekte mittlerweile ihre Heimat an europäischen Universitäten gefunden haben und öffentliche Förderung genießen.

Auskunft, wo die Arbeitskräfte für diese Art der Landwirtschaft herkommen sollen, gibt es ebensowenig wie einen Plan, wie denn die USA, Südamerika, China und Afrika innerhalb der nächsten paar Jahre auf vegane Lebensweise umgestellt werden soll oder wie Heuschrecken, Viruserkrankungen und andere Plagen ohne wirksame Pflanzenschutzmittel bekämpft werden sollen. Es wird nur gefordert – so wie manche Großdenker derzeit fordern, man müsse die Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen und den Ukrainekrieg durch unverzügliche Verhandlungen beenden.

Europa wird sich diesen Irrsinn leisten können, solange es noch Abnehmer für seine Luxusprodukte gibt und solange noch genug Geld da ist, um den Hungerkatatstrophenländern Geld zuzustecken, damit sie sich auf dem Weltmarkt Getreide kaufen können (aber nur genfreies!).

Das Getreide fürs tägliche Brot und die Nudeln der Europäer, das Billigfleisch für die gelegentliche Grillwurst und die für moderne urbane Ernährung unverzichtbaren Avocados, Chia-Samen, Quinoa, Amaranth, Goji-Beeren führen wir weiterhin aus Ländern ein, in denen es weder Düngemittelverordnung, Tierschutzmindeststandards, Arbeitsstättenverordnungen, Pestizidreduktionsprogramme oder die Pflicht zu mobilen Toiletten am Feldrand gibt – ganz so, wie wir Atomkraftwerke abschaffen, aber Atomstrom aus Frankreich und neuerdings der Ukraine importieren, wie wir Fracking verbieten, aber gefracktes Gas aus den USA importieren, wie wir das Kükentöten verbieten und stattdessen selektierte (für die Hühnerzucht) und getötete Küken (für Tierparks und -futter) aus dem Ausland importieren, wie wir den Anbau von Genpflanzen verbieten und stattdessen jährlich mehr als 20 Millionen Tonnen Gensoja aus China, Südamerika und den USA importieren.

Man kann nur hoffen, dass die internationale Gemeinschaft die Europäer rechtzeitig zur Vernunft bringt. In Europa selbst gibt es keine ernstzunehmenden Kräfte mehr, die diese Realitäsverweigerung korrigieren könnten.