Immer wieder muss man vernehmen, Putins Krieg gegen die Ukraine sei überraschend – so als hätte er nicht schon vorher Kriege geführt. Einen führte er gegen Tschetschenien. Schon damals sahen einige in ihm ein Menetekel kommender Kriege. Eine notwendige Erinnerung.

Das eine ist richtig, das andere falsch. Als der tschetschenische Menschenrechtler Abubakar Jangulbajew jüngst in einem Interview behauptete, der Krieg gegen die Ukraine, die Unterdrückung der Revolution in Belarus, die Kriege in Georgien und Syrien, dies alles habe man als eine Kette zu betrachten, die ihren Anfang nahm in den beiden Kriegen gegen Tschetschenien – da hatte er wohl recht. Aber dann fügte er hinzu: „Niemand scherte sich damals um Tschetschenien.“

Wer sich an die 15 Jahre Krieg erinnern mag, der, geteilt in einen ersten und einen zweiten Tschetschenienkrieg, mit dem Tod rund eines Viertels der Einwohner von Tschetschenien endete und der fast vollständigen Zerstörung der Hauptstadt Grosny, wird an dieser Stelle vielleicht intervenieren und Jangulbajew uneingeschränkt recht geben wollen: Das stimmt, niemand scherte sich damals um Tschetschenien. Tatsächlich stimmt das, wenn man allein die Politik des Westens meint oder des sogenannten „Globalen Südens“ oder Chinas oder wer sonst noch einen Hauch von Macht, Interesse und Willen besessen hätte, Russland entgegenzutreten. Ja, dann muss man sagen: „Niemand scherte sich damals um Tschetschenien.“ Aber dieses „Niemand“ ist zu absolut, löscht Namen aus, die unbedingt genannt werden müssen als Zeugen ihrer eigenen mutigen Zeugenschaft von Russlands gewaltiger Aggression – und unseres bequemen Wegschauens. Deshalb muss hier widersprochen werden. Denn da waren Menschen, die sich scherten und warnten und aufrüttelten. Aber sie scheiterten. Sie wurden gehört – und ignoriert. Als Namen dieser Menschen sind stellvertretend zu nennen: Anna Politkowskaja, André Glucksmann und Memorial.

MEDITIEREN AM RANDE DES ABGRUNDS

Hinter dem Namen der Menschenrechtsorganisation Memorial stecken viele andere wie Irina Scherbakowa oder Grigori Schwedow. Memorial, das sich seit mehr als drei Jahrzehnten bemüht, den Stalinismus in Russland aufzuarbeiten, erwies sich auch während der Tschetschenienkriege als unabhängiger Beobachter. Die Organisation wusste, dass als Motor hinter dem Unabhängigkeitsstreben der Tschetschenen vor allem die Erinnerung an das Jahr 1944 steckte, als sehr große Teile des tschetschenischen Volkes nach Zentralasien deportiert wurden. Und während dieses Verbrechen im Gedächtnis der Tschetschenen tief verankert war, war das für die russische Gesellschaft nur eine weitere nicht besonders erinnerungswürdige Grausamkeit aus der sowjetischen Geschichte – die dann durch den tschetschenischen Terrorismus quasi egalisiert wurde, der wiederum ohne Rücksicht bekämpft werden musste, als im Jahr 1999 Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau verübt wurden. Fortan sprach Putin von einem „Antiterrorkampf“ gegen tschetschenische Terroristen. Allerdings weist vieles darauf hin, dass der russische Geheimdienst bei den Anschlägen seine Finger im Spiel hatte. Abgeordnete, der damals noch nicht vollständig gleichgeschalteten Duma, forderten Aufklärung und wurden ermordet.

Die russische Journalistin Anna Politkowskaja ließ sich davon nicht einschüchtern. Sie schrieb nicht nur über die Korruption im russischen Verteidigungsministerium, sondern vor allem über das Vorgehen von Putins Truppen in Tschetschenien. Diese machten oft keinen Unterschied zwischen Terroristen und Zivilisten: Folter, Vergewaltigung, Mord wurden zum Alltag in Tschetschenien. Und weil Grosny eine Ruinenstadt war, wuchsen die Flüchtlingslager, in denen Elend, Wut, Verzweiflung grassierten. Politkowskaja war regelmäßig in Tschetschenien, kannte das Land und die angrenzenden Regionen genau. Sie bezeichnete Tschetschenien nicht von ungefähr als „Konzentrationslager unter freiem Himmel“. Im Jahr 2004 wurde sie auf einem Flug nach Beslan ohnmächtig, kam ins Krankenhaus; sie hatte zuvor einen Tee getrunken.

Ein Zitat von André Glucksmann passt genau auf Politkowskajas Arbeit: „Wer das Ende der Welt lebt, sieht es nicht, wer es sieht, lebt es zwar nicht, aber er ist dazu verdammt, gegen seinen Willen am Rande des Abgrunds zu meditieren.“ Aber das traf auf Glucksmann selbst auch zu. Denn nichts beschäftigte ihn in den frühen 2000er-Jahren mehr als Tschetschenien, dahinter trat sogar der islamistische Terrorismus von Al Qaida zurück, wenngleich diese Bedrohung Glucksmann wohl zu seinem Buch über den Hass inspiriert hat. Aber es beginnt mit einem „Vorgeschmack auf die Apokalypse“, einer Hieronymus-Bosch-Hölle, mit einer Meditation über Tschetschenien, die den tschetschenischen Terrorismus nicht ausblendet, aber den Staatsterrorismus des Putinschen Regimes als Quellpunkt all der Grausamkeit erkennt – seine Verachtung für das „Menschenmaterial“, den rassistischen Hass.

INDISKUTABLE UND ERMORDETE

Warum aber nahm im Westen, nahm in Deutschland die Politik all diese Stimmen nicht ernst? Gerade der zweite, zehnjährige Tschetschenienkrieg ab 1999 hatte doch eine andere Dimension, er war unter Putin zu einem Vernichtungs-, einem Auslöschungskrieg mutiert, dessen Ausmaß nicht zu übersehen war.

Die Antwort ist vielschichtig. Zunächst galt diese Auseinandersetzung als „innerrussische Angelegenheit“, in die man sich nicht einzumischen habe – und gewiss auch nicht konnte. Außerdem spielte Putin ja die „Antiterror-Karte“: Seht her, auch wir haben ein Islamisten-Problem. Wir gehören zu dem von Präsident Bush ausgerufenen War on Terror. Ein cleverer und dazu noch kostenfreier Zug. Glucksmann wusste Putins Trick richtig einzuschätzen: „Wenn eine solche Schlächterei zum ‚antiterroristischen Kampf’ erklärt wird, fragt man sich, warum die Engländer nicht Belfast, die Spanier nicht Bilbao ausradiert haben und die Franzosen nicht Algier.“

Dass Glucksmann es in Deutschland schwer hatte durchzudringen, lag auch an seinem Weltanschauungswandel: Früher Maoist, hatte er sich zum Antitotalitären gewandelt und die Linke, ihre Irrtümer und Säulenheiligen attackiert. Damit wurde er zum Indiskutablen für linke Journalisten und Intellektuelle, die die kognitive Leistung nicht erbringen konnten oder wollten, dass Putins Russland kein Hort des Progressiven ist, im Gegenteil.  

Anna Politkowskaja starb meuchlings 2006, als ihr Mörder sie im Aufzug ihres Moskauer Wohnhauses mit fünf Schüssen niederstreckte. Es starb ihre Stimme, ihr aufklärerischer Furor, ihre Unbestechlichkeit. Der Krieg ging weiter.

Die Schikanen gegen Memorial verschärften sich in Russland von Jahr zu Jahr mehr. Auch sie wurden zum Schweigen gebracht. Im Jahr 2022 bekam die Organisation den Friedensnobelpreis, konnte zu dem Zeitpunkt aber schon kaum noch arbeiten. Die meisten Mitarbeiter befinden sich im Ausland.

Den allesentscheidenden Grund für das Schweigen in Deutschland erkannte Grigori Schwedow von Memorial schon 2005, als er Folgendes schrieb: „In der Gesellschaft haben sich nationalistische Ideen ausgebreitet und Fuß gefasst. (…) Dem deutschsprachigen Leser ist die derzeitige Atmosphäre in der russischen Gesellschaft nur schwer zu vermitteln. Und dies wird noch schwieriger, wenn unsere Länder durch die Gaspipeline noch enger miteinander verbunden sein werden – dann werden deutsche Politiker ihre Augen noch fester vor den vielen Menschenrechtsverletzungen verschließen. Wen interessiert schon, was am anderen Ende der Pipeline vor sich geht. Die Gaslieferungen sind wichtiger.“

Und das ist es, warum an die hier genannten Personen erinnert werden muss: wegen ihres Mutes, ihrer Klarsicht – und weil sie uns beschämen, die wir uns mit Falschaussagen zufrieden geben, mit Sätzen wie: „Wir haben es nicht gewusst.“ „Wir haben es falsch eingeschätzt.“ „Wir haben uns alle täuschen lassen.“

Wer das sagt, der hat nicht zugehört. Wer das sagt, der lügt. Wer das sagt, der will von seinen wahren Gründen ablenken.

Die Zeit der deutschen Liebedienerei gegenüber Russland muss aufgearbeitet werden. Wir sind es allen Opfern schuldig.