Weder seine ungeklärten Russlandkontakte noch seine offene Bewunderung widerlichster Diktatoren sind Trumps Tiefpunkte. Ungeheuerlich und nicht mehr gutzumachen ist, was an der amerikanisch-mexikanischen Grenze mit Kindern geschieht.

Wenn Donald Trump nicht vorzeitig aus dem Amt scheidet, und wenn er 2020 nicht wiedergewählt wird, was beides möglich ist, dann begehen wir in diesen Tagen die Halbzeit seiner Präsidentschaft. Mir – wie so vielen Amerikanern – kommt es vor, als sei mehr Zeit vergangen: Ich bin in diesen zwei Jahren ungefähr um 20 Jahre gealtert. Wenn ich darüber nachdenke, was die Präsidentschaft Trumps am besten kennzeichnet, dann fällt mir als erstes nicht Robert Mueller und seine Untersuchung von Trumps Russlandkontakten ein; nicht sein öffentlicher Auftritt mit dem widerwärtigsten Diktator der Erde, nämlich Kim Jong-un, den Trump nach eigenen Angaben liebt; nicht seine offenen Versuche, die NATO und die EU zu zerstören; nicht einmal der „government shutdown“, mit dem Trump seinen Wählern zeigen will, dass er ein richtiger Kerl ist. Nein, was mir als erstes einfällt, sind die Bilder von Kindern in Käfigen, die sich mit Alufolie zudecken. Das bleibt. Das ist ungeheuerlich, und es lässt sich nicht mehr auslöschen.

Pünktlich zur Halbzeit treffen jetzt Meldungen ein, dass nicht nur hunderte lateinamerikanische Kinder an der Grenze zu Mexiko gekidnappt wurden, sondern tausende. Die Regierung Trump hat sofort mit dieser brutalen Praxis losgelegt. Wie die meisten Amerikaner – wie alle, die nicht zu Donald Trumps verblendeter Anhängerschaft gehören – reagiere ich auf diese Meldung mit einer Mischung aus Mitleid, Schock und Zorn. Ich weiß gar nicht, was mir mehr Albträume verursacht: Der Gedanke an die armen Kinder, die jetzt ohne Mamá, ohne Papá einschlafen müssen, die niemand in den Arm nimmt, denen niemand ein Buch vorliest – oder der Gedanke an die Eltern, die vor Weinen kein Wort mehr herausbringen.

Hören Sie sich, wenn Sie es aushalten, noch einmal diese Tondokument hier an, ich halte es nicht aus:

Ein Richter hat die Regierung Trump zwar angewiesen, die Familien schleunigst wieder zusammenzuführen, und in vielen Fällen ist das auch geschehen. In anderen Fällen aber nicht. Denn niemand hat sich gemerkt, wer zu wem gehört. Ein sarkastischer Witzbold hat zu Beginn von Trumps Präsidentschaft angemerkt, das Markenzeichen dieser Regierung sei „cruelty tempered by incompetence“. Aber zumindest im Fall der Trennungen der Kinder von ihren Eltern wurde die Grausamkeit durch Inkompetenz nicht im Zaum gehalten, sondern vervielfacht. Wir haben grundlos Kinder zu Waisen gemacht.

Gewiss kann man geteilter Meinung über die amerikanische Einwanderungspolitik sein. Bret Stephens findet, wir sollen alle reinlassen, die in die Vereinigten Staaten wollen – außer Kriminellen und Terroristen, versteht sich. Es ist genug Platz für alle da. David Frum glaubt, dass wir die Einwanderung nach Amerika aus ökonomischen wie aus politischen Gründen bremsen sollten.

Barbarisch

Über diese Frage kann man lange und fruchtbar streiten. (Ich bin mit David Frum befreundet, aber mehr auf der Seite von Bret Stephens.) Nicht streiten kann man darüber, dass es barbarisch ist, Eltern ihre Kinder – auch Kleinkinder, auch Babys – wegzunehmen und sie in Käfige zu sperren. Verteidiger von Trumps Politik sagen gern, Eltern würden ja auch dann ihre Kinder weggenommen, wenn sie ein Verbrechen begangen hätten und deswegen ins Gefängnis müssten. Stimmt. Aber vorher gab es einen Gerichtsprozess, in dem jemand schuldig gesprochen wurde. Und auch dann kommen die Kinder nicht in Käfige, sondern werden – wenn wirklich BEIDE Elternteile zusammen eine Bank ausgeraubt haben – bei Verwandten untergebracht. Die Eltern der Kinder in den Käfigen in Texas haben kein Verbrechen begangen. Sie haben unerlaubt eine Staatsgrenze überschritten. Das ist ein Vergehen, keine schwere Straftat: Es wird nach amerikanischem Recht mit derselben Buße belegt wie das Überqueren einer Kreuzung, wenn die Fußgängerampel rot zeigt.

Und um Asyl zu bitten, ist überhaupt keine Straftat. Es ist ein Recht.

Viele Kommentatoren schrieben im ersten Schreck, es sei „unamerikanisch“, Kinder und Eltern auseinanderzureißen. Wenn damit gemeint ist, dass die Regierung Trump gegen den Geist der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verstößt – „life, liberty and the pursuit of happiness“ –, dann stimmt das natürlich. Aber leider ist die Wahrheit, dass wir schon öfter in unserer Geschichte Barbaren gewesen sind. Zum Horror der Sklaverei gehörte, dass dabei schwarze Familien zerstört wurden: Die Mutter wurde in jene, ihre Kinder in die andere Plantage verkauft; Väter sahen ihre Töchter und Söhne nie wieder. (Nach dem Sieg der Unionstruppen im amerikanischen Bürgerkrieg zogen Schwarze in den Südstaaten hin und her, um zu sehen, ob sie irgendwo noch Verwandte ausfindig machen konnten.) Noch bis ins 20. Jahrhundert wurden Kinder von amerikanischen Ureinwohnern auf Internate geschickt, wo fortschrittliche Pädagogen ihnen „die Indianerseele aus dem Leib prügelten“. Ich behaupte, dass dies bis heute Folgen hat. Und dass eine rechtsradikale Regierung, die die Herrschaft der weißen Amerikaner über alle anderen wiederherstellen möchte, zu dem barbarischen Mittel greift, Kinder zu schnappen und wegzusperren, kann – mit Sigmund Freund – als „Wiederholungszwang“ gedeutet werden.

Ich persönlich glaube ja, dass Familien heilig sind und dass, wer sich an Familien vergreift, den Zorn des Himmels auf sich herabbeschwört. Aber natürlich reicht das nicht. Wenn diese Regierung gestürzt ist (sei es durch Wahlen, sei es durch ein Amtsenthebungsverfahren), dann wünsche ich mir, dass all jene, die diese schauerliche Politik der Familientrennung ausgeheckt und durchgeführt haben, sich vor irdischen Gerichten zu verantworten haben. An erster Stelle Kjersten Nielsen, Trumps Innenministerin; Stephen Miller, Trumps Chefeinflüsterer, was Einwanderungsfragen angeht; und der Präsident der Vereinigten Staaten.