Die Holocaust-Stalker
Ein Stelenfeld gegen die AfD, ein Zug namens „Anne Frank“: Wie die Erinnerungskultur verkommt.
Erinnerungskultur und Zeitgeist gehen immer Hand in Hand. So galt der Holocaust viele Jahre als ein Ereignis, das aus der Tagespolitik herausgehalten wird, weil er in seinen Dimensionen so unbegreiflich und einzigartig war.
Es wurden Reden gehalten, die mit „wehret den Anfängen“ begannen und mit „nie wieder“ endeten, und es galt als Tabu, dieses Menschheitsverbrechen für die eigene Agenda zu instrumentalisieren. Das gehörte zum Konsens, dem sich nur extreme Parteien und Einzelpersonen verweigerten.
Spaßgesellschaft trifft schwarze Pädagogik
Spätestens aber, seitdem in Sichtweite von Björn Höckes Haus ein Holocaustmahnmal steht, ist nicht mehr zu übersehen, dass sich etwas verändert hat. Das „Zentrum für Politische Schönheit“, ein Zusammenschluss von Aktionskünstlern, reagiert damit auf eine Rede des AfD-Politikers, in der er das Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnete.
Deutsche stalken nun also andere Deutsche mit dem Holocaust und bauen ihnen Stelen vor das Haus, als ob es sich um Halloween-Streiche handelt. Die Künstler verlangen von Höcke, vor diesem Mahnmal in die Knie zu gehen, das sie der einfachheithalber gleich selbst mitgebracht haben, als ob es sich um einen Kasten Bier oder eine Hüpfburg handelt. Spaßgesellschaft trifft auf schwarze Pädagogik, das ist die deutsche Erinnerungskultur im Herbst 2017.
Die Ereignisse, die sich da in Höckes Vorgarten abspielen, sind ein Machtkampf um die Holocaust-Deutungshoheit. Zwei verfeindete Gruppen der Täterseite treten dabei gegeneinander an, während die (jüdischen) Opfer in dieser deutsch-deutschen Auseinandersetzung nur Mittel zum Zweck sind. Die einen möchten die Judenvernichtung zu einem Verbrechen unter anderen reduzieren und die anderen sie als Mittel nutzen, um ihre Gegner moralisch zu erpressen. Dass die sechs Millionen ermordeten Juden dabei als Druckmittel missbraucht werden, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, scheint die Macher des Höcke-Stelenfeldes nicht zu stören.
Ein Zug mit dem Namen „Anne Frank“?
Diese Trivialisierung des Holocausts geht mit einem allgemeinen Verlust an Feingefühl für Gesten und Symbole einher. So nennt die Deutsche Bahn einen ICE der nächsten Generationen „Anne Frank“ und versteht die Empörung darüber nicht.
Schulen, Straßen und öffentliche Plätze trügen schließlich auch ihren Namen, hieß es dazu. Dass es etwas anderes ist, eine Bibliothek nach Anne Frank zu benennen als ausgerechnet einen Zug, also das Transportmittel der Deportationen, will die Bahn nicht verstehen.
Auch das zeigt, wie sich der Umgang mit dem Holocaust wandelt. Er wird immer mehr zu einem normalen Kapitel deutscher Geschichte, mit dem dazugehörigen Grad an Ignoranz für die Details.
Erinnern, ohne von historischen Bezügen gestört zu werden
Die Erinnerungskultur wird jedenfalls längst nicht mehr nur von revisionistischen Politikern attackiert, sondern ebenso von Gruppen wie dem „Zentrum für Politische Schönheit“, dem der Mord an Millionen Menschen als Kulisse für eine medienwirksame Aktion gegen einen politischen Gegner dient.
Die Deutsche Bahn wiederum steht für eine Entwicklung des Erinnerns, dem die Symbolik vollkommen ausreicht, und die nicht von historischen Bezügen gestört werden will.
Vermutlich ist es der normale Lauf der Dinge, dass sogar etwas so Unvorstellbares wie der Holocaust irgendwann zu einem Ereignis unter vielen schrumpft. Ob das aber eine gute Entwicklung ist, muss bezweifelt werden.
„Dieser Text ist zuerst bei SPIEGEL DAILY erschienen, der smarten Abendzeitung – News, Meinung, Stories. Hier finden Sie die aktuelle Ausgabe.“