Was sich so in meinem Notizbuch angesammelt hat – 4. Dezember 2017

„Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Der Satz, mit dem der FDP-Vorsitzende Christian Lindner den Abbruch der Sondierungsgespräche begründete, enthält eine Wahrheit, die über die Parteipolitik weit hinaus geht. Es fallen einem viele Länder ein, für die es ein Segen wäre, wenn sie mal eine Zeitlang nicht regiert würden. Betrachtet man manche sozialpolitische Entscheidung der letzten Legislaturperiode und manche sozialpolitische Forderung möglicher künftiger Koalitionspartner, wird man den Verdacht nicht los, dass auch Deutschland zu diesen Ländern gehören könnte.

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Der große französische Gelehrte Jean-Baptiste le Rond d’Alambert musste sich von seiner Pflegemutter sagen lassen: „Du wirst nie etwas anderes sein, als ein Philosoph. Und was ist ein Philosoph? Ein Irrer, der sich sein Leben lang quält, damit die Menschen über ihn reden, wenn er tot ist.“ Das ist es vielleicht wirklich, was einen echten Philosophen von einem modernen Medienphilosophen unterscheidet: Über letzteren reden die Menschen nur, solange er lebt.

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„Klein Ernas Mamma geht in die Anlagen spazieren, und da trifft sie mit’n Mal Frau Schulze, die’n Kinderwagen schiebt. ‚Na, Frau Schulze, schon wieder’n Kleines? Lassen Sie mal sehn! Och, wie nüdelich! Is wohl ein Junge?’ ‚Nee, is kein Junge.’ ‚Ach, is es denn ein Mädchen?’ ‚Erraten!’“ Der Tag ist nicht weit, an dem jemand entrüstet fordert, in künftigen Auflagen von Vera Möllers Klein-Erna-Geschichten diesen Witz zu streichen, weil es da nichts zu lachen gebe.

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Die hinterhältigste Falle, die ein Journalist einem Wissenschaftler stellen kann, ist die beliebte Reporterfrage „Können Sie ganz ausschließen, dass…?“ Niemand kann diese Frage ehrlicherweise mit „Ja“ beantworten. Können Sie ganz ausschließen, dass Sie morgen von einem Klavier erschlagen oder von Außerirdischen entführt werden, dass nächste Woche der Dritte Weltkrieg ausbricht oder am 30. Mai Weltuntergang ist? Die einzige ehrliche Antwort lautet: „Nein.“ Gibt man aber diese Antwort, wird dies interpretiert, als erwarte man diese Dinge. So ist der Wissenschaftler vor ein unauflösliches Dilemma gestellt: Er muss lügen, wenn er nicht – meist absichtsvoll – missverstanden werden will. Der einzige Ausweg besteht darin, die Antwort auf „Können Sie ganz ausschließen, dass…?“-Fragen kategorisch zu verweigern.

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Häufig zu beobachten bei Führungskräften: Erstklassige Leute scharen erstklassige Leute um sich, zweitklassige drittklassige.

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Kurz vor der Bundestagswahl gab ich der Tageszeitung „Die Welt“ ein Interview, in dem es um die Rolle der Umfrageforschung vor Wahlen ging. Am Rande kam auch die AfD zur Sprache: Ich hatte darauf hingewiesen, das die Bevölkerung heute mehr als vor einigen Jahrzehnten glaubt, am politischen Leben teilnehmen zu können, und dass sie nicht mehr das Gefühl hat, es ginge jedesmal bei Wahlen für das Land um Überleben oder Untergang. Daraufhin fragten die Reporter zurück: „AfD-Wähler sehen das ganz anders. Sie glauben gerade nicht, mitbestimmen zu können. Für sie hängen Wohl und Wehe des Vaterlandes davon ab, ob Angela Merkel Kanzlerin bleibt.“ Ich antwortete: „Es handelt sich doch bei den AfD-Wählern nur um eine kleine Minderheit, nicht um den Durchschnitt der Gesellschaft.“

Man sollte meinen, diese Bemerkung sei eine Banalität. Ich glaubte, die Sache sei damit erledigt, hatte nämlich keine Lust, über die AfD zu sprechen. So war es auch: Das Interview wandte sich wieder anderen Gegenständen zu. Doch als ich sechs Wochen später zufällig auf die Internetveröffentlichung des Interviews stieß, fand ich dort 950 Kommentare vor, größtenteils wüste Beschimpfungen durch AfD-Anhänger (wenn nicht professionelle Trolle oder Bots). Offenbar kann diese kaum etwas mehr in Rage bringen als die Feststellung, dass sie in der Minderheit sind. Das ist verständlich, denn sie wissen, dass ihre einzige Chance, die Macht im Land zu erringen, darin besteht, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Gelänge es ihnen, die Öffentlichkeit in diesem Punkt zu täuschen, würden ihnen nämlich Heerscharen von Opportunisten und ängstlichen Unpolitischen zulaufen. Und dann wäre der Zeitpunkt nicht mehr weit, an dem sie tatsächlich die Mehrheit auf ihre Seite ziehen könnten. So wird für sie der kurze Hinweis auf eine simple statistische Tatsache zur größten Gefahr, die mit aller Macht niedergebrüllt werden muss. Daraus folgt: Man sollte keine Gelegenheit auslassen, darauf hinzuweisen, dass die AfD-Anhänger eine kleine Minderheit sind.

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Zu den ärgerlichsten Auswüchsen der political correctness an den Universitäten gehört das ungeschriebene Gesetz, wonach Studenten nur noch „Studierende“ genannt werden sollen. Man sollte sich diesem Ansinnen widersetzen, denn mit ihm geht ein erheblicher Verlust der Sprachpräzision einher: Nicht jeder Student studiert und nicht jeder, der studiert, ist Student.

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Auf Plakaten am Bahnhof fordert eine sicherlich sehr löbliche Organisation dazu auf, mit einer Spende von zwei Euro die Welt zu retten. Da wäre mir der Ablasshandel von vor 500 Jahren lieber, denn er war ehrlicher: Da ging es nur darum, sich selbst zu retten. Damit haben die allermeisten Menschen schon mehr als genug zu tun.

 

 


Thomas Petersen berichtet in der Reihe „Mein Books of Kells“ in unregelmäßigen Abständen über das, was sich über die Jahre in seinem Notizbuch angesammelt hat. Die „Mein Book of Kells“-Reihe kann hier nachgelesen werden.