Beispiele aus Asien zeigen angeblich, dass es möglich ist, auf synthetische Pflanzenschutzmittel und Mineraldünger zu verzichten und dennoch gute oder sogar bessere Ernten einzufahren. Doch die Realität sieht anders aus.

Wenn man dem ZDF und grünen Parlamentariern glauben darf, dann ist der kleine indische Bundesstaat Sikkim weltweites Vorbild und schlagender Beweis dafür, dass die komplette Umstellung eines Landes auf Biolandwirtschaft und -produkte möglich ist. Das Land begann seine Konversion 2010; seit 2016 ist die Verwendung von synthetischen Pflanzenschutzmitteln und Mineraldünger komplett verboten – die Regierung verkündete stolz, Sikkim sei nun der erste indische Bundesstaat „mit 100 Prozent Bio“.

Das ZDF macht sich die Regierungspropaganda zueigen: “planet e. hat die Bauern und Einwohner des indischen Unionsstaates besucht, die gerade Öko-Geschichte schreiben. Kardamom, Mais, Reis, Weißkraut und Kartoffeln werden in den Ökomärkten verkauft. Überall wird für die gesunden Lebensmittel aus Bioanbau geworben. Kunstdünger und Pestizide sind verpönt und dürfen nicht eingeführt werden. Wer dagegen verstößt, wird wie ein Drogendealer behandelt.“ Mehr noch: Die Regierung habe sogar den Import von konventionell produziertem Gemüse verboten. Das bedeutet, heißt es weiter, „dass die Behörden befugt sind, mit Pestiziden verunreinigtes Gemüse und Obst zu vergraben und zu vernichten. Ein Albtraum für die Hersteller von Kunstdünger und Pestiziden. Agrochemieriesen wie Bayer oder BASF sind in Sikkim nicht erwünscht.“

Ist das nicht toll?

Selektive Wahrnehmung

Doch die Autoren der Sendung waren zwar vor Ort, aber sie haben offenbar nur gesehen, was sie sehen wollten und gehört, was sie hören wollten. Denn die Realität sieht anders aus. In Indien ist die schlechte Situation der Landwirte in dem Himalaja-Staat längst ein Dauerbrenner in den Medien.

Sikkims Bauern klagen über unfaire Preise und untaugliche Mittel. Schildläuse, Raupen, Wanzen und andere Schädlinge lassen sich nicht effektiv bekämpfen, auch gegen Pilzerkrankungen fehlen den Bauern geeignete Mittel. Die Ingwerernte ging auf ein Drittel des Ertrags zurück, der vor dem Stopp der Verwendung synthetischer Pflanzenschutzmittel üblich war. Gegen die Blattscheidendürre, eine Pilzerkrankung der Ingwerpflanze, gibt es keine Bio-Pflanzenschutzmittel. Auch die Ernten von Mais und Hülsenfrüchte sind eingebrochen. Wo vorher 470 bis 500 kg pro Hektar geerntet wurden, sind es jetzt noch 130 bis 140. Probleme bestehen auch bei Orangen und Kardamom. Landwirte berichten von Ernteeinbußen von 25 bis 50 Prozent; bei Tomaten mehr als 50 Prozent.

Selbst Sikkims National Organic Farming Research Institute (NOFRI) stellt fest: „Das Problem des Insektenbefalls hat sich seit der Umstellung auf Biolandbau erhöht.“ Die indische Zeitung Sunday Guardian bilanzierte im Juni 2018, die Umstellung sei ein „Fiasko“: Sikkim produziere nur noch 20% seines Reisbedarfs, die Weizenproduktion sei von 21.600 Tonnen auf 350 Tonnen gefallen, vom wichtigen Exportprodukt Kardamom, von dem 2004 noch 5.400 Tonnen erzeugt wurden, sei die Ernte 2015 auf 4.000 Tonnen gefallen. Nur die Produktion von Futtermais sei gestiegen (59.000 Tonnen 1996 / 68.000 Tonnen 2016). Sikkim sei in hohem Maße von Lebensmittelimporten aus Nachbarstaaten abhängig, die nach wie vor konventionell produzieren.

Sikkim, so sagt der indische Agrarwissenschaftler Dr. G. V. Ramanjaneyulu vom Centre for Sustainable Agriculture in Hyderabad, konnte schon vor der Konversion in einen einhundertprozentigen Bio-Staat seine Bevölkerung – etwa 600.000 Einwohner – nicht ernähren, ganz zu schweigen von den 800.000 Touristen, die pro Jahr ins Land strömen, Tendenz steigend, weil viele Westler das Bio-Paradies besuchen wollen. Er nennt Zahlen: 70% der Lebensmittel mussten schon vor der Wende importiert werden, in Zukunft werden es vermutlich deutlich mehr sein.

Schon jetzt zeigen sich die Folgen. Im April 2018 sollte die nächste Stufe der Bio-Revolution in Kraft treten: Einfuhrstopp für alle Obst- und Gemüsesorten ohne Bio-Zertifikat. Doch als sich die Preise für manche Produkte versechsfachten, kam es zu Protesten  und die Händler rebellierten.

Die Regierung ruderte zurück. Vorerst bleiben zahlreiche konventionell angebaute Produkte aus Nachbarstaaten frei verkäuflich – sie werden weder verbrannt noch vergraben. Vom Verkaufsverbot ausgenommen sind mittlerweile Getreide, darunter Reis, sowie Karotten, grüne Chilis, Zwiebeln und Tomaten ebenso wie Kartoffeln.  

Sikkims Landwirte, deren heimische Zwangsbioprodukte mit den konventionellen konkurrieren müssen, haben das Nachsehen. Denn so wie in Deutschland können und müssen auch die Verbraucher in Sikkim rechnen: Sie kaufen, was preiswert ist. Zum Ärger der Bauern reagierte die Regierung auf die Versorgungskrise dann auch noch mit einer Festsetzung von Höchstpreisen für Bio-Lebensmitteln. Mit anderen Worten: sie ernten wesentlich weniger, können ihre Bio-Produkte aber nicht teurer verkaufen. Höhere Preise könnten aber ohnehin nur Touristen und die kleine Oberschicht bezahlen. Sikkims Bevölkerung ist bettelarm.

Notgedrungen suchen die Landwirte ihr Heil im Export und bauen Avocados und Kiwis an – Luxusware für die Bewohner von indischen Großstädten wie Delhi oder Kalkutta. Doch dieser Versuch, die Einkommensausfälle zu kompensieren, ist riskant. Sikkims Infrastruktur ist schlecht. Das Land hat weder einen Flughafen noch ist es an das indische Eisenbahnnetz angeschlossen. Straßen sind jahreszeitenbedingt unpassierbar, es gibt weder Kühlhäuser noch Kühllaster und damit keine funktionierende Kühlkette für die leicht verderbliche Ware. Das alles ist erst verfügbar, wenn die Produkte auf schlechten Straßen die Nachbarländer erreicht haben.

Ramanjaneyulu, übrigens ein Verfechter nachhaltiger Landwirtschaft und Methoden des Bio-Landbaus durchaus nicht abgeneigt, hält die Konversion für äußerst schlecht gemacht; Experten hätten sie am grünen Tisch entworfen, sagt er, und nicht aus der Perspektive der Bauern gedacht. Die Profiteure der staatlich verordneten Wende seien die Großhändler und vor allem die Zertifizierungsagenturen; an letztere gingen fast 80% des Budgets der „Organic Mission“. Die Bauern, sagt Ramanjaneyulu, gehen weitgehend leer aus, da sie ihre Ernteeinbußen nicht durch höhere Einkünfte wettmachen können.

Ist Sikkim Vorbild für die Bio-Konversion der Welt?

Wohl kaum. Sikkim ist ein Gebirgsstaat. Nur rund 15% der Fläche lassen sich bewirtschaften. Schon vor der Bio-Wende war die Landwirtschaft nicht mit der in Industrieländern wie den USA, Europa oder China zu vergleichen: die Höfe klein (1-2 Hektar) und praktisch ohne Maschinen, mit einem sehr geringen Verbrauch von Mineraldünger und Pestiziden und überschaubaren Ernten. So war Sikkim in den letzten Jahren von allen indischen Bundesstaaten das Schlusslicht in Sachen Produktivität beim Anbau von Obst und auf dem viertletzten Platz beim Gemüseanbau.

Sikkims Bauern setzten 5,8 kg/ha Mineraldünger ein; in Deutschland sind es 100kg/ha. Von einer solchen kleinteiligen, unproduktiven und arbeitsintensiven Landwirtschaft (64% der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft) auf Bio umzusteigen, ist leichter als der Umstieg von einer Hightech-Landwirtschaft, bei der ein Landwirt 155 Menschen ernährt.

Positiv an dem staatlichen Programm ist die Unterweisung der Bauern in Sachen Dünger und Schädlingsbekämpfung, sagen Agrarexperten. Dies könne langfristig durchaus einen positiven Effekt auf die Produktivität haben. Zahlreichen Bauern in Sikkim werden nämlich jetzt zum ersten Mal elementare Kenntnisse wie Biologie der Schädlinge, Nährstoffbedarf von Pflanzen und Bodenökologie vermittelt.

Einfluss auf die Produktivität wird auch der Strukturwandel haben, den die Zwangsumstellung ausgelöst hat: Viele Landwirte, die besonders kleine Flächen bewirtschaften, geben auf, weil sie mangels Anbaufläche keine Möglichkeit zur Diversifizierung haben. Dies führt zu einem Konzentrationsprozess, der die Produktivität durchaus geringfügig erhöhen kann.

Diese minimalen Steigerungen werden aber nicht ausreichen, um Sikkim in die Lage zu versetzen, die Lebensmittel für seine 600.000 Einwohner plus die knappe Million Touristen zu erzeugen.

Pestizidfrei – auch anderswo gescheitert

Experimente zum Verzicht auf „Ackergifte“, wie NGOs Pflanzenschutzmittel gerne nennen, sind auch anderswo gescheitert. Sri Lanka, das 2015 unter dem Einfluss und unter großem Applaus westlicher NGOs den Einsatz von Glyphosat verbot, um eine „toxic free nation“, eine Nation ohne Gift, zu werden, hat das Verbot inzwischen wieder aufgehoben. Der Grund: Die Teeplantagen wurden derart von Unkraut überwuchert, dass sie kaum noch bewirtschaftet werden konnten. In dem dichten Bewuchs breiteten sich Giftschlangen aus, sodass Plantagenhelfer die Arbeit verweigerten. Die Ernteverluste waren hoch und kosteten die Tee-Exporteure allein im Jahr 2017 umgerechnet 100 Millionen Euro. Japan drohte mit einem Importverbot für Tee aus Sri Lanka, weil Tee-Anbauer begonnen hatten, auf andere, wesentlich langlebigere Herbizide umzusteigen, deren Rückstände japanische und europäische Behörden alarmierten. Auch der Anbau anderer Nutzpflanzen war betroffen. Beim Reisanbau etwa stieg der Wasserverbrauch durch Zusatzüberflutungen, die notwendig wurden, um das Unkraut ohne Pflanzenschutzmittel zu bekämpfen, um 20 Prozent. Eine übersichtliche Bilanz des gescheiterten srilankischen Experiments ist hier verfügbar, und auch die Zustände im bisweilen als Musterbeispiel herangezogenen „Bioparadies Kuba“ sind realiter alles andere als paradiesisch.

Fazit

Die Verwendung von selbst erzeugtem Kompost, Schädlingsbekämpfung mit biologischen Methoden, Fruchtfolgen und Mischkulturen können Kleinbauern in Asien und Afrika, die kaum investieren und keine Rücklagen bilden können, durchaus helfen, besser zu wirtschaften. Ein Allheilmittel sind sie nicht. Diesen Bauern, die vermutlich nichts lieber wollen, als sichere Ernten einzufahren, um ihre Familien ernähren und ihre Kinder zur Schule schicken zu können, helfen westliche Ideologien nicht. Ihnen helfen bessere Infrastruktur, Versicherungen, Smartphones und Apps, mit denen sie Preise abfragen, handeln und Informationen über Wetter, Schädlinge und Bekämpfungsmethoden abfragen können, der gezielte Einsatz wirksamer Mittel und lokale Forschungseinrichtungen, die mit modernen Pflanzenzuchtmethoden lokale Sorten rasch an Schädlingsdruck und klimatische Veränderungen anpassen können. Mal helfen ihnen Methoden des Biolandbaus, mal die der konventionellen Landwirtschaft. 

Das Schwarzweißdenken westlicher NGOs nutzt weder den Bauern noch der Umwelt. Gentechnik als unnatürlich zu verdammen und Pflanzenschutzmittel zu verurteilen, nur weil sie synthetisch hergestellt sind, hat nichts mit Wissenschaft, aber viel mit Glauben zu tun. Insofern handeln die heutigen NGOs nicht anders als christliche Missionare, die sich in einer anderen historischen Epoche als Heilsbringer für Afrika und Asien aufspielten. Der Glaube an die Überlegenheit der eigenen Religion ist westlichen Predigern offenbar nicht auszutreiben.