Mehr Sanktionen wagen!
Energiewende, Mülltrennung und militanter Pazifismus: Die Deutschen gefallen sich in der Rolle der moralischen Streber. Geht es hingegen um die Verbrechen Russlands, zeigen sich deutsche Politiker uninspiriert. Dabei gäbe es mit den amerikanischen „Magnitsky“-Sanktionsgesetzen eine wirksame Blaupause für den Umgang mit Putin.
Die Deutschen wollen gemocht werden. Mehr noch als andere Nationen. Das hat mit ihrer Vergangenheit zu tun, in der sie ihre Nachbarn überfielen und sich den Kontinent und die ganze Welt zum Feind gemacht haben. Heute geriert Deutschland sich gerne als Saubermann. Seine Bewohner trennen ihren Müll und retten das Klima mit ihrer „Energiewende“. Sie stecken kein Geld in Kampfdrohnen, überlassen das Töten von Terroristen den Amerikanern und beteiligen sich nicht an militärischen „Abenteuern“.
Nicht nur das: Die Deutschen sind Gralshüter der Moral. Wo auch immer vor einer Eskalation von Konflikten, einem neuen Kalten Krieg, militärischer Konfrontation, Scheitern von Friedensprozessen oder politischen Brandstiftern gewarnt werden kann – auf die Bundesrepublik ist Verlass. Ihre Repräsentanten verkünden bereitwillig jede friedenspolitische Phrase. Das Volk liebt vermeintliche Whistleblower und fürchtet seine eigenen Geheimdienste. Und wenn Israel verdächtigt wird, internationales Recht zu brechen, gibt man dem angeblich guten Freund sofort eins auf die Mütze. Die Moralkeule ist stets griffbereit.
Fast immer. Ausgerechnet dann, wenn es wirklich sinnvoll wäre, regt sich keine moralische Empörung. Das zeigt der Fall Sergei Magnitsky. Während der Name des 2009 in einem russischen Gefängnis zu Tode gequälten Anwalts und Wirtschaftsprüfers gerade wieder weltweit die Runde macht, schweigen sich Deutschlands Meinungsführer aus.
Nach Magnitsky ist ein Sanktionsgesetz benannt, das bereits in mehreren Staaten eingeführt wurde. Im Oktober beschlossen die Kanadier nach amerikanischen Vorbild ihren „Magnitsky Act“. In Washington stimmte man bereits 2012 mit großen Mehrheiten in beiden Kongresskammern für das Gesetz. Und auch in Europa schließen sich Gesetzgeber an: Nach Großbritannien und Estland hat Litauens Parlament Mitte November einstimmig seinen „Magnitsky Act“ beschlossen. In Schweden arbeitet man derweil daran. Selbst im EU-Parlament wird die Einführung des Gesetzes gefordert.
Nie gehört? Kein Wunder
Mit dem nach ihm benannten Gesetz schreibt der russische Jurist Magnitsky nicht nur im Westen posthum Rechtsgeschichte. Er dürfte auch der einzige Tote sein, der von einem russischen Gericht des Steuerbetrugs schuldig gesprochen wurde. Umso erstaunlicher, dass der Fall in der deutschen Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielt. Denn Magnitskys Tod ist ein gewaltiger Image-Gau für das Putin-Regime. Während sich die aggressive russische Außenpolitik immer noch als Notwehr gegen den Westen bemänteln lässt (und sich auch ausreichend nützliche Idioten finden, die das hier im Westen ebenfalls tun), zeigt der Fall Magnitsky, was Putins Russland ist: ein Mafiastaat.
Diesem System wurde Magnitsky gefährlich, als er 2008 Steuerbetrug durch Regierungsbeamte in großem Stil aufdeckte. Er war das, was wir als „Whistleblower“ bezeichnen. Seine Recherchen begann er im Auftrag des britischen Geschäftsmannes Bill Browder, der von Anfang der 90er bis 2005 in Russland mit seiner Investmentfirma „Hermitage Capital“ aktiv war. Browders Unternehmen brachte es zum größten westlichen Investor Russlands. Die Firma wurde dann jedoch zum Dreh- und Angelpunkt eines Raubzugs, als sie von korrupten Beamten für den Steuerbetrug missbraucht wurde. (In seinem autobiographischen Buch „Red Notice“ schildert Browder die Hintergründe und Vorgänge, die zur Aufdeckung des Steuerbetrugs führten; wer das Buch nicht lesen möchte, kann sich hier und hier ausführliche Interviews mit Browder anhören).
Magnitskys Recherchen ergaben, dass der russische Staat von seinen eigenen Beamten um 230 Millionen Dollar erleichtert worden war. Man hätte Magnitsky für diesen Coup den Heldenorden der Russischen Föderation verleihen können. Stattdessen wurde er unter dem Vorwurf der – Sie ahnen es – Steuerhinterziehung festgenommen. Und ausgerechnet einer der Beamten, die er angezeigt hatte, erhielt – Ironie oder Perfidie der Geschichte – die Zuständigkeit für seinen Fall. Trotz Folter und verweigerter medizinischer Versorgung, zahlreicher Verlegungen in immer neue Moskauer Gefängnisse mit immer schlechteren Haftbedingungen und trotz eines rapiden körperlichen Verfalls in Folge der Misshandlungen weigerte sich Sergei Magnitsky, seine Anzeige und Zeugenaussage zurückzuziehen. Er starb am 16. November 2009 nach 358 Tagen in russischer Haft im Alter von 37 Jahren durch Totschlag. er hinterließ eine Frau und zwei Kinder.
Mit dem Tod seines Anwalts nahm Bill Browder eine Lebensaufgabe an: diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die an der Ermordung Magnitskys beteiligt waren und davon profitierten. Dafür lobbyierte er in dem Staat, der politisch wie wirtschaftlich am einflussreichsten erschien – die USA. Browder ging vielen Leuten furchtbar auf die Nerven und war erfolgreich. Gemeinsam mit einflussreichen politischen Akteuren, u.a. dem republikanischen Senator John McCain, erreichte er 2012 sein Ziel: die Verabschiedung des „Russia and Moldova Jackson-Vanik Repeal and Sergei Magnitsky Rule of Law Accountability Act“, oder eben auch kurz „Magnitsky Act“. Das Gesetz brachte zunächst 18 russische Beamte und Geschäftsleute, viele mit engen Verbindungen zum Kreml, auf eine Sanktionsliste. Ihr Vermögen bei amerikanischen Banken wurde eingefroren und sie erhielten ein Einreiseverbot für die USA. Mittlerweile stehen 44 Personen auf dieser Liste.
Die russische Kleptokratie in ihrer ganzen Brutalität
Weil der Fall die russische Kleptokratie in ihrer ganzen Brutalität zeigt, bekämpft das Regime den „Magnitsky Act“ global mit allen Mitteln. Als unmittelbare Reaktion auf seine Einführung in den USA verhängte Russland ein Verbot von Adoptionen russischer Waisenkinder durch amerikanische Staatsbürger. Bill Browder wiederum wurde zum Staatsfeind No. 1. Im Oktober landete er auf Betreiben des Kreml zum mittlerweile fünften Mal auf der Fahndungsliste von Interpol – nur um zum fünften Mal nach kurzer Zeit unter Verweis auf die politische Motivation des Ersuchens wieder gestrichen zu werden. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat den russischen Missbrauch von Interpol bereits im März dieses Jahres gerügt und in ihrem Bericht hierzu festgehalten, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin 2014 in einem Gespräch mit dem damaligen Interpol-Generalsekretär sogar persönlich für die Festnahme Bill Browders eingesetzt habe. So verwundert es nicht, dass auch die mittlerweile berüchtigte russische Anwältin Natalia Veselnitskaya, die kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen im Trump Tower mit Donald Trump jr. und anderen Vasallen des damaligen Kandidaten über politische Deals verhandelte, vor allem ein Ziel verfolgte: den Magnitsky Act loszuwerden.
Gelungen ist ihr das bislang nicht. Stattdessen verbreitet sich das für den Kreml verheerende Gesetz dank der Nervensäge Bill Browder weiter. Und warum nicht in Deutschland? Dem Land der Whistleblower-Fans, das sich kollektiv in Julian Assange und Edward Snowden verliebte (als man noch davon ausging, dass sie das seien, was sie vorgaben zu sein)? Hier hätte der Aufschrei doch besonders laut sein müssen, als Sergei Magnitsky zu Tode gefoltert wurde. Stattdessen: beharrliches Schweigen. Die Bundesrepublik, die – ganz moralischer Streber – immer als einer der ersten Staaten internationale Vorgaben in deutsches Recht übernimmt, ignoriert seit 2014 die Empfehlung des Europarates zu Magnitsky. In seiner Resolution 1966 hatte der Europarat seinen Mitgliedstaaten explizit empfohlen, dem amerikanischen Vorbild zu folgen und die gezielten Sanktionen des „Magnitsky Act“ in eigenes Recht zu übernehmen.
Magnitsky gehört in den Koalitionsvertrag
Dem Vorbild der USA folgen? Wo kämen wir denn da hin? Das ist in Deutschland nicht durchsetzbar, vor allem dann nicht, wenn es sich gegen Russland richtet. Mehr noch: Es wird nicht diskutiert und auch die Medien interessieren sich nicht für den Fall („Assange“ erzeugt über 600 Treffer im „Spiegel“-Archiv, während es „Magnitsky“ auf nicht mal 20 bringt).
Auch wenn es unwahrscheinlich ist: Das sollte sich ändern. Bald gibt es, so die SPD-Basis will, Koalitionsverhandlungen. Es wäre eine schöne Geste einer künftigen großen Koalition, zu zeigen, dass wir Deutschen es ernst meinen mit unserer Moral und dass wir keine Doppelstandards anlegen, wenn es um eklatante Menschenrechtsverletzungen geht. Sollte die SPD tatsächlich mit an Bord der nächsten Regierung sein, böte sich ihr eine einmalige Chance: Die Partei des Kreml-Lobbyisten Gerhard Schröder könnte beweisen, dass sie nicht kollektiv dem Putinismus verfallen ist, wenn sie es fertig brächte, „Magnitsky“ auch in Deutschland zu beschließen.
Magnitskys Witwe und seine beiden Kinder wären nicht die einzigen, die es der SPD dankten. Es geht hier nicht nur darum, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die aus niedersten Beweggründen den Tod Sergei Magnitskys herbeigeführt haben. Es geht auch darum, Whistleblower wie ihn in Zukunft zu schützen, indem deutlich gemacht wird, dass Verbrechen dieser Art nicht straffrei bleiben werden.
Die Autorin arbeitet im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik für einen Think Tank in Berlin.