Was sich so in meinem Notizbuch angesammelt hat – 2. Oktober 2018

Vom Historikertag wird berichtet, der Göttinger Forscher Dirk Schumann habe einen dezidiert tagespolitischen Resolutionsentwurf mit dem Argument begründet, es sei die Aufgabe von Historikern, auf Basis ihrer Fachkompetenz Orientierung zu leisten. Mir scheint das ein Missverständnis der gesellschaftlichen Rolle der Historiker zu sein. Natürlich liefern diese Informationen, die die Bevölkerung und besonders Politiker kennen sollten, und die ihnen helfen, sich zu orientieren. Doch in der Vergangenheit haben sich Historiker nicht als besonders geeignet erwiesen, den Menschen zu sagen, wo es hingehen soll. Das müssen Bevölkerung und Politiker – im Lichte dieser Informationen – selbst tun, und nicht selten werden die richtigen Schlussfolgrungen andere sein als die, die man in der Vergangenheit hätte ziehen müssen. Wer Orientierung leisten will, muss sich im Gelände auskennen, sonst führt er in die Irre. Das Gelände eines Historikers ist ein anderes als das der mit der Tagespolitik befassten Menschen.

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Tagelang haben sich die deutschen Medien, auch außerhalb des Boulevards, ausführlich mit der Frage befasst, ob Ernie und Bert schwul sind oder nicht. Das regt zu Spekulationen weniger über die Macher der „Sesamstraße“ an als über den Geisteszustand deutscher Journalisten.

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In einem eigentlich sonst ganz interessanten Radioporträt über Clemens Brentano mokiert sich die Autorin über dessen antiquiertes Frauenbild. Was dem Mann auch einfällt, die moralischen Normen der Zeit 150 Jahre nach seinem Tod einfach zu ignorieren!

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„Wenn das Volk die ausgedehntesten Wahlrechte besitzt und über jeden größeren Regierungsschritt abstimmen darf, so braucht der, der die Technik der Volksbeeinflussung versteht und rücksichtslos ausübt, sich trotzdem nicht zu fürchten. Er wird es so einrichten, dass er immer als Retter des Vaterlandes erscheint. Hat er Schwierigkeiten im Innern, so sagt er, es stehe eine Gewitter am auswärtigen Himmel (…). Sucht er das Volk zu beschränken, so nennt er die Beschränkung Freiheit, und unter einem demokratischen Getöse verrät er den Geist der Selbstregierung des Volkes.“ Geschrieben hat dies Friedrich Naumann im Jahr 1919. Geholfen hat es bis heute nicht.

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Ich nahm ein einer Podiumsdiskussion zu der Frage teil, warum den Volksparteien die Wähler davonlaufen. Man kann einiges dazu sagen: Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die Auflösung der traditionellen sozialen Milieus, die weniger starke Konfrontation zwischen den Parteilagern innerhalb des unzweifelhaft demokratischen Spektrums, die große Koalition. Doch es gibt auch noch eine andere Antwort: Im Frühjahr forderte die Gleichstellungsbeauftragte des SPD-geführten Familienministeriums, den Text der Nationalhymne zu ändern. Aus „Vaterland“ sollte „Heimatland“ werden, statt „brüderlich mit Herz und Hand“ sollte es heißen „couragiert mit Herz und Hand“. Mal abgesehen davon, dass jemand, der so etwas fordert, damit dokumentiert, das er den Text nicht verstanden hat und von der Geschichte ebenso wenig versteht wie von Sprache (vom Respekt gegenüber historischen Texten ganz zu schweigen): Wie kann man sich angesichts solcher Äußerungen noch ernsthaft darüber wundern, dass der SPD die Wähler in Scharen davonlaufen?

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Nachtrag: Mein 14-jähriger Sohn fragte, als er die Nachricht hörte, ob die Dame wohl auch Probleme mit der Muttersprache habe. Da war ich stolz.

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Dass eine Partei, die ihren Erfolg bei den Wählern wesentlich durch das Propagieren einer Attitüde der Elitenverachtung sucht und die bei internationalen Streitthemen kategorisch jeden Versuch ablehnt, sich gedanklich einmal in die Position der Gegenseite zu versetzen, ernsthaft darüber diskutiert, eine ihr nahestehende politische Stiftung nach Gustav Stresemann zu benennen, kann man, wenn man keine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit unterstellen will (was zugegebenermaßen schwerfällt), nur als Folge historischer Ahnungslosigkeit deuten. Wollte man einen Bezug zur Weimarer Republik herstellen, böte sich stattdessen der Name „Alfred-Hugenberg-Stiftung“ an.

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Seit Jahrzehnten streiten sich Hamburger und Berliner glücklicherweise nur halb ernsthaft über die Frage, in welcher Stadt die Currywurst erfunden wurde. Die bekannten Fakten sprechen für Berlin: Es war die Berliner Imbissbudenbesitzerin Herta Heuwer, die nachweislich ab 1949 eine „Spezial Curry-Bratwurst“ anbot. Erzählungen über Currywurstverkäufe aus früherer Zeit sind entweder nicht nachprüfbar oder eindeutig Fake News. Und doch könnte die historische Wahrheit letztlich doch auf Seiten der Hamburger sein, wenn man das auch nie wird nachweisen können. Da ist zum einen die Tatsache, dass exotische Gewürze in der Fernhandelsstadt Hamburg lange Zeit viel leichter zu bekommen waren als im tief im Binnenland gelegenen Berlin und auch ganz selbstverständlich Eingang in die regionale Küche gefunden haben. Vor allem aber ist zu bedenken, dass es vielleicht kein Zufall ist, dass die Currywurst in schlechten Zeiten erfunden wurde, als Lebensmittel knapp und Kühlschränke selten waren. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine Geschichte an Bedeutung, die in Hamburg schon in der Vorkriegszeit bekannt war: Ein Kapitän stellte beim Besuch in der Kombüse fest, dass das fürs Mittagessen vorgesehene Hühnchen schon bedenklich müffelte. „Och, das macht garnix“, antwortete der Smutje fröhlich. „Da mach’ ich ‚n ordentlichen Schlach Curry an, denn merkt das kein Mensch.“

 


Thomas Petersen berichtet in der Reihe „Mein Books of Kells“ in unregelmäßigen Abständen über das, was sich über die Jahre in seinem Notizbuch angesammelt hat. Die „Mein Book of Kells“-Reihe kann hier nachgelesen werden.