Pop, Politik und Propaganda
Wenn Gesang und Rede der Propaganda dienen, dann gibt es kein Vertun. Dann ist unsere politische Kultur, dann sind Zivilität und Wahrhaftigkeit in Gefahr.
W. I. Lenin besaß einiges Geschick für Kalkül und Strategie, jede seiner Aktionen war durchdacht, es sollte den Bolschewiken kein Fehler unterlaufen auf dem Weg zur Revolution. Und als der Sieg erst errungen war, galt es, die Macht zu sichern und alle Elemente des Alltags und des Lebens in den Dienst des Kommunismus zu stellen. Das galt selbstverständlich auch für die Künste, die man, richtig angeleitet, gut für die eigene Sache nutzen konnte. Deshalb erfand Lenin auch den Agitprop, mit dem man Propaganda für den Marxismus-Leninismus machen und mittels Agitation zu konkreten politischen Aktionen aufrufen konnte. Diese Kunstform fand man teilweise sogar in der Studentenbewegung der 1960er Jahre attraktiv, einige Restbestände haben in alten Kursbüchern und Anthologien die Zeit überdauert. Mittlerweile ist Agitprop politisch ganz weit rechts gelandet, aber nicht nur bei Hardcore-Nazibands, sondern im Mainstream des Pop.
Vor kurzem veröffentlichte der Sänger Xavier Naidoo mit der Band Söhne Mannheims den Song „Marionetten“. Darin wird beklagt, dass jemand die Tatsachen verdrehe und sich an Unschuldigen vergehe. Da sind Volksvertreter nichts anderes als Marionetten, die man in Fetzen reißen müsse, wenn das die Bauern mit ihren Heugabeln nicht schon erledigen würden. Einer der Sänger der Söhne Mannheims, Henning Wehland, bezeichnete diesen Song als harmlosen „Appell zum Nachdenken“.
Natürlich ist er alles andere als harmlos. Er arbeitet auf perfide Weise mit Versatzstücken aus dem semantischen Instrumentenkoffer der sogenannten „Verschwörungstheoretiker“ und „Reichsbürger“, der Demokratiegegner und Pegidisten, der Rechtspopulisten und Nazis. Manchmal werden diese Versatzstücke nur vage angestoßen wie zum Beispiel mit dem Wort „Pizzagate“, das auf eine bewusst gestreute Falschmeldung aus dem letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf verweist, nach der Hillary Clinton irgendetwas mit einem Kinderpornoring zu tun haben sollte. Jeder weiß heute und konnte damals schon wissen, dass dies mit der Wahrheit nichts zu tun hat. Aber in Naidoos Song feiert der Fall fröhliche Urständ in Verbindung mit der Formulierung, „weil ihr euch an Unschuldigen vergeht“. So wird klammheimlich durch ein Wortfeld insinuiert, alle Politiker seien Kinderpornographen oder zumindest auf deren moralischem Niveau. Das erinnert doch stark an das Bild der kinderblutsaufenden Juden, mit denen schon die nationalsozialistischen Medien im Dritten Reich Propaganda betrieben. In diesen Zusammenhang passt auch das Bild der „Marionetten“, die unsere Volksvertreter sein sollen. Die Puppenspieler werden nicht genannt, weil man sicher sein kann, dass die Adressaten schon wissen, wer gemeint ist – und wenn sie es nicht wissen, dann ist es auch egal, denn es geht ja in erster Linie darum, die Demokratie und ihre Institutionen zu verunglimpfen. Das ist der eigentliche Sinn dieser Liedzeilen. Die dazu ziemlich ungeschminkt den Aufstand von einigen Volkshelden gegen die Demokratie und den Parlamentarismus propagieren.
Wenn die Aufregung zu groß wird, dann behaupten die Protagonisten gerne, es wäre alles nicht so gemeint gewesen und das Ganze nur eine „Zustandsbeschreibung“, die „missverständlich“ ausgefallen sei, so Naidoo.
Antisemitismus, Volksgemeinschaft, Heldentum – das waren die Säulen der nationalsozialistischen Propaganda. Sie sind auch das Gerüst von „Marionetten“. Und die Wahrheit ist: Dieser Song ist schlicht Nazi-Agitprop. Nichts anderes.
Die Figur der „Figuren“
Im Umfeld der „Marionetten“ ist auch die Sprachfigur der „Figuren“ zu finden. Figuren sind etwas, was man hin- und herschieben kann, zum Beispiel auf einem Spielbrett; aber es hat auch die Bedeutung von „zwielichtiger Person“. Das Wort kann also zu einer veritablen Waffe werden, wenn man verunglimpfen, herabwürdigen und beleidigen will. So kürzlich geschehen auf dem Kölner Parteitag der AfD. Der Wirtschaftswissenschaftler und Bundessprecher der Partei, Jörg Meuthen, sprach in seiner Rede von „diesen Figuren“ – und meinte damit die Bundeskanzlerin, die Regierung und überhaupt das politische Establishment. Meuthen arbeitet also auch wie Naidoo mit Mehrdeutigkeit, die in ihrer Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Man kann sich immer zurückziehen hinter ein „Es war nicht so gemeint“, aber die Adressaten verstehen sehr gut, was und wer gemeint ist. Sie verstehen die Bedeutung, den Sinn der Worte – denn er ist eindeutig. Und so erheben sie sich von den Stühlen und johlen, nachdem das Wort von den „Figuren“ gefallen ist. Und man weiß nicht, was einen mehr schockiert und ärgert: die Reaktion des Publikums oder das verschmitzte und selbstzufriedene Schmunzeln von Jörg Meuthen, der sich freut, dass er die Massen so bewegen kann. Dabei ist er in genau diesem Moment in die Falle der Selbstüberschätzung und der Illusion gegangen, weil er glaubt, er könne die Massen da unten im Saal lenken, er könne den Kochtopf nach Belieben regulieren. Er wird ihm eines Tages um die Ohren fliegen. Er wird die Radikalität, die sich da aufbaut, nicht mehr bremsen können. Er wird selbst als bürgerlicher Schwächling diffamiert und hinweggefegt werden. Er wird seine Vorstellung von einer nationalkonservativen, wirtschaftsliberalen Partei beerdigen müssen, weil er mit Worten einen Ungeist heraufbeschwört, der ihn bald zwingen wird, der unangenehmen Wahrheit ins Auge zu sehen.
Die totalitären Sprachen, so schrieb Jean Pierre Faye vor vielen Jahren in seiner betreffenden Studie, haben „die organisierte Zerstörung des Menschenantlitzes“ zum Ziel. Wer von „Figuren“ und „Marionetten“ redet, wie Naidoo und Meuthen das tun, der sollte das wissen. Und sie wissen es: Sie begeben sich außerhalb der Zivilität – und jeder Wahrhaftigkeit.