Gastkolumnist und Rechtsanwalt Lutz Hartmann antwortet auf Daniel Killys Beitrag zu den Rassismusvorwürfen gegen die Kölner Polizei.

Bis vor wenigen Wochen waren wir uns in Deutschland immer einig: der Rechtsstaat steht nicht zur Disposition. Gut so! Der Rechtsstaat ist – neben der Anerkennung der Menschenrechte – DIE abendländische Errungenschaft, die es zu verteidigen gilt. An ihm hängt alles: Pressefreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, die Einhegung der Staatsmacht in ihrem Handeln und der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Menschen. Wir waren und sind immer sehr weit vorne, wenn es darum geht, den Rechtsstaat in anderen Ländern einzufordern. Da werden, je nach betroffener Region und Orientierung der dortigen Regierung, von links wie von rechts große Reden geschwungen.

Jetzt werden wir auf die Bewährungsprobe gestellt. Zum zweiten Mal seit dem zweiten Weltkrieg sind wir einer Bedrohung im eigenen Land ausgesetzt. Beim ersten Mal (dem linken Terrorismus der Roten Armee Fraktion) war ich noch zu jung, um die rechtspolitische Diskussion zu verfolgen, aber jetzt kann ich dies. Wir haben im vergangenen Jahr Angriffe auf unseren Frieden und auf unsere Freiheit erleben müssen. Unsere Antwort darauf war, die bedingungslose Verteidigung unseres Rechtsstaates recht schnell fallen zu lassen, etwa beim bislang geltenden Prinzip, verdächtige Personen ohne die schwarzen Augenbalken zur Fahndung öffentlich zu zeigen.

Auf Facebook gab es sogar Kampagnen, die sich über die schwarzen Balken geradezu lustig machten und die Polizeibehörden für dieses Vorgehen ins Lächerliche zogen.

Auch wenn es erstaunlich erscheint: Die Tatsache, dass wir einen Verdächtigen nicht mit vollem Antlitz der Öffentlichkeit präsentieren, ist ein Grundpfeiler unseres Rechtsstaates. Natürlich wäre es für uns schön, wenn wir immer direkt wüssten, ob ein Verdächtiger auch ein Schuldiger ist. Dann würde auch ich sagen: seine Persönlichkeitsrechte treten hinter dem Aufklärungsinteresse und der Strafverfolgung zurück. Aber wenn wir dieses zur Regel werden lassen, werden wir einen Falschen treffen und dann noch einen und dann ganz viele! Und damit ginge ein wichtiger Teil unseres Rechtsstaates verloren.

Die Unschuldsvermutung ist eines der wichtigen Prinzipien unserer Strafverfolgung. Verankert wurde sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN, in der Europäischen Grundrechtecharta und in der Europäischen Menschenrechtskonvention. In Deutschland leiten wir sie direkt aus dem Grundgesetz und dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip her. Beispielhaft heißt es in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention: „Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

Beim Terroranschlag in Berlin gab es den folgenden Vorfall, der die potentielle Tragweite der um sich greifenden Öffentlichkeitsfahndung erkennen lässt: zuerst wurde ein anderer Mensch als Täter verdächtigt und verhaftet als der später dann bei einer Kontrolle in Mailand getötete Anis Amri. Er habe sich auffällig verhalten, sei schon polizeibekannt, wurde als Begründung geäußert. Bis heute muss davon ausgegangen werden, dass er nichts mit dem Anschlag zu tun hatte. Wo stünde unser Rechtsstaat, wenn wir sein Bild veröffentlicht hätten? Welches Leben könnte dieser Mensch in Deutschland und Europa noch führen?

Eine weitere verwirrende Diskussion entstand direkt nach der Silvesternacht 2016/17 auf Twitter. Die Polizei hatte eine Pressemitteilung mit dem Schlagwort „Nafri“ veröffentlicht, welches für Angehörige nordafrikanischer Länder steht. Aus dieser Tatsache wurde fälschlicherweise entwickelt, die Polizei habe „racial profiling“ betrieben. Dies ist nicht das Beängstigende. Beängstigend ist, dass zahlreiche Kommentatoren und selbst namhafte Publizisten plötzlich „racial profiling“, also die Klassifizierung von potentiellen Tätern nach ihrer Rasse, als probates Mittel der Polizeiarbeit bezeichnen. Wie selbstverständlich wurde propagiert, die Eingrenzung von Menschen einer bestimmten Rasse im Rahmen einer Polizeiaktion sei ja wohl besser, als es zu sexueller Belästigung kommen zu lassen. Dass es gute Polizeiarbeit sein muss, dies zu verhindern und nicht ein Verstoß gegen Art 3 des Grundgesetzes, kam diesen Meinungsbildnern nicht in den Sinn.

Rechtsstaat ist nicht nur etwas für die Sonnentage, nein Rechtsstaat, Freiheit, Friede, Menschenrechte und Pressefreiheit müssen jeden Tag verteidigt werden, insbesondere dann, wenn es weh tut und mühsam ist. Wir fordern dies immer wieder von anderen Ländern, tappen wir nicht in die erste Falle, die Terroristen uns stellen!

Lutz Hartmann ist Anwalt in Frankfurt, Farmer in Äthiopien und Vater in Portugal. Seit diesem Sommer berät er als Partner der Kanzlei Belmont Legal in Frankfurt seine Mandanten aus dem Homeoffice in Portugal bei Unternehmenskäufen. Die ersten vier haben gut geklappt! Zudem hat er vor zwei Jahren angefangen, eine Gemüsefarm in Äthiopien aufzubauen, nichts Ehrenamtliches, sondern mit dem Ziel Geld zu verdienen und soziale Verantwortung wahrzunehmen: ein echtes Kind der sozialen Marktwirtschaft!