Sie müssen reden!
In den vergangenen zwanzig Jahren ist im Umgang mit dem Putin-Regime einiges falsch gelaufen. Es wird Zeit, dass sich die Protagonisten Fragen stellen.
Es gibt da eine Geschichte über einen erfolgreichen Zauberer, der regelmäßig seine Zuschauer in seinen Bann schlägt, doch seine Kunststücke sind absonderlicher Art, eher Hypnosen, denen sich keiner zu entziehen weiß: Dieser Zauberer kann mit seinem Publikum anstellen, was er will. Erst als er es mit einem jungen Mann übertreibt und ihn in seinen Gefühlen verletzt, kommt es zum Eklat, zur Katastrophe.
Diese Geschichte ist, in aller Kürze, von Thomas Mann – und wird zur Zeit so ähnlich von Manuela Schwesig, ihres Zeichens Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, erzählt. Sie hat nämlich in einem Video erklärt, dass Russlands Präsident Putin alle getäuscht habe. Ja, sie hat das wirklich gesagt: „alle“!
SCHWESIGS ERZÄHLUNGEN
Dieses „Alle“ ist an sich schon eine dämliche, dreiste Ausrede, aber dazu noch eine hinterlistige Verleumdung. In den vergangenen Wochen haben noch einmal alle, die nicht zu Schwesigs „alle“ gehörten – und das waren gar nicht so wenige –, mit Nachdruck deutlich gemacht, dass alle verantwortlichen Politiker, die Putin „vertrauten“ und die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 als alternativlos verkauften, auf die vielen Kritiker dieser Politik fast zwanzig Jahre nicht gehört haben. Diese kamen aus der Wissenschaft, der Politik, aus dem Journalismus, aus Russland selbst, aus Osteuropa, den USA – eigentlich von überall her. Selbst wenn man auf dem Mars wohnte, wäre es fast unmöglich, den wahren Charakter von Putins Regime nicht wahrzunehmen. So kann auch eine Ausrede wie „Hinterher ist man immer schlauer“ nicht funktionieren. Es waren einfach zu viele schon vorher schlauer. Trotzdem versucht Frau Schwesig sich wie ein Unschuldslamm zu gerieren. Tatsächlich muss sie auch alle unbilligen Register ziehen, denn als wegen amerikanischer Sanktionen gegen Nord Stream 2 der Abschluss des Projekts erschwert wurde, kam sie auf die Hehler-Idee, eine klimafremde „Klimastiftung“ zu gründen, um so die Gazprom-Millionen für die Pipeline ökologisch reinzuwaschen. Es gehört schon sehr viel Chuzpe dazu, solch ein durchschaubares Manöver vor der Öffentlichkeit als redlich zu verkaufen. Doch schon das glaubte die Ministerpräsidentin im Unschuldslamm-Kostüm plausibel absolvieren zu können. Soviel gespielte Unschuld war selten.
WIR BRAUCHEN AUFKLÄRUNG
Vielleicht ist es an der Zeit, Schwesigs Satz, Putin habe uns alle getäuscht, einmal aufklärungshalber zu dekonstruieren und zu fragen: Warum haben uns Politiker wie Schröder, Steinmeier, Merkel, Platzeck, Söder, Schwesig et al. über viele Jahre versucht zu täuschen, indem sie Nord Stream 2 als rein wirtschaftliches Projekt annoncierten? Warum haben sie Putin als einen integren Partner verkauft, während er Länder überfiel, politische Gegner schikanieren, einsperren, vergiften, ermorden ließ? Warum haben sie immer mehr Energieträger von Russland bezogen, während sie die Atomkraft abgeschaltet und die Energiewende verschleppt, ja, zuletzt sogar behindert haben? Was steckt hinter alldem? War es wirklich die Überzeugung, man müsse Russland als unkalkulierbares Risiko für den Frieden in Europa einbinden – koste es, was es wolle: in diesem Fall die energiepolitische Unabhängigkeit, die Ehre, die Glaubwürdigkeit, die Zukunft? War es – gut kapitalismuskritisch gesprochen – der Einfluss der fossilen Wirtschaftslobby, der Global Player, des Big Business, die mit Russland einen Handelspartner bekamen, mit dem man Milliarden verdienen konnte? War es allgemein Gier, Angst, Verführbarkeit, Machterhalt, Korruption, Erpressung, der Glaube an die positive Wirkung von Appeasement, Weggucken, Selbstbetrug, Mitläufertum, Autosuggestion und letztlich alles zum Wohle und Wohlstand des deutschen Volkes? Gab es keinen Zeitpunkt der Umkehr vom verderblichen Tun, zum Beispiel 2014, als Putin die Krim annektierte?
Wir brauchen Aufklärung. Denn das alles war mehr als eine irrtümliche, bedenkenlose, in Fehlern verrannte und auf Machterhalt konzentrierte Politik. Man machte (und macht) zwar auch mit anderen fossilen Schurkenstaaten Geschäfte, aber sie wurden nicht als integre Partner verkauft, die die Menschenrechte wahren. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass Putin wegen seiner Menschenrechtsverletzungen auch nur mit einem Halbsatz von deutschen Regierungen ernsthaft behelligt wurde.
Wir brauchen Aufklärung, um, wie es Demokratien tun, zu lernen und künftig Fehler zu vermeiden.
Die Verstrickung von SPD (vor allem) und CDU/CSU in Putins Netzwerk braucht endlich staatsanwaltliche Ermittlungen, Untersuchungsausschüsse, Historikerkommissionen und interne Aufarbeitungen. Damit täten die betreffenden Parteien nicht nur sich, sondern auch dem Land einen großen Gefallen.
Und wir brauchen Aufklärung durch die Protagonisten in diesem Schmierenstück, das weit über bloß „falsche Politik“ hinausgeht. Politiker wie Schröder, Steinmeier, Merkel, Platzeck, Söder, Schwesig et al. müssen reden, offen und ehrlich reden. Sie sollen sich ruhig zunächst selbst die Frage stellen, warum sie all die Jahre gehandelt haben, wie sie gehandelt haben. Aber dann müssen sie alle unsere Fragen beantworten. – Wir dürfen Antworten verlangen.