„Der Tagesspiegel“ geht unter die Aluhüte: Auf einer Doppelseite verbreitet die Zeitung skurrile Hypothesen zur Handystrahlung, die man sonst nur aus esoterischen Kreisen kennt.

Wer abergläubig ist, muss nicht länger Spott und Häme fürchten. Das hat kürzlich Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) deutlich gemacht, als er offen darüber nachdachte, bei der Nummerierung des neuen Sozialgesetzbuches eine Ziffer zu überspringen und direkt zur 14 zu springen. Seine Sorge: Einige Menschen könnten ein Problem mit der „Unglückszahl 13“ haben.

Ein paar Tage später dann bewies der Berliner „Tagesspiegel“, dass Hokuspokus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Im „Leitmedium in der Hauptstadt“ (Eigenbeschreibung) durften zwei Journalisten auf einer Doppelseite einen heroischen Kampf gegen die angeblichen Gefahren von Mobilfunkstrahlungen führen und damit eine skurrile Hypothese in den journalistischen Mainstream überführen, die man sonst nur aus esoterischen Kreisen kennt.

Es beginnt bereits bei der sehr irreführenden Behauptung der Autoren, Harald Schumann und Elisa Simantke, dass „Die Wissenschaft […]  über die Frage zutiefst zerstritten“ sei. Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall. Der allgemeine, wissenschaftliche Konsens über die möglichen Gefahren von Mobilfunkstrahlung besteht darin, dass bisher keine überzeugenden Nachweise für eben diese Schädlichkeit gefunden werden konnte. Warum behaupten also der „Tagesspiegel“, dass es große Risiken gäbe? Diese Frage hat viel mit den Schwierigkeiten der journalistischen Bewertung von wissenschaftlichen Studien zu tun.

Von Kausalität und Korrelation

Man kann das an einem recht populären Beispiel einmal verdeutlichen:
Natürlich ist die Versuchung groß, eine aufmerksamkeitsheischende Überschrift wie „Kaffee beugt Krebs vor“ zu verwenden, wenn in den damit assoziierten Studien davon gesprochen wird, dass es Hinweise darauf gibt, dass Kaffeetrinken mit einem geringeren Risiko für bestimmte Krebsarten in Zusammenhang steht. Das klingt für manche vielleicht identisch, ist es aber nicht. Um dem Unterschied zu verstehen, muss man sich zuerst des Unterschiedes zwischen Korrelation und Kausalität bewusst werden.

In der Medizin, Psychologie, Politikwissenschaft oder überhaupt allen Wissenschaften, die sich mit lebenden Organismen beschäftigen, wird man in den meisten Fällen auf Ergebnisse treffen, die davon sprechen, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (oder auch nicht), dass eine Beziehung zwischen zwei (gelegentlich auch mehr Variablen) existiert. Das bedeutet, dass zwischen einer bestimmte Variable (in diesem Fall also Kaffee) und  des Eintretens einer Veränderung (beispielsweise Krebs) möglicherweise ein Zusammenhang besteht. Damit weiß man allerdings noch nichts darüber, ob hier ein Ursache-Wirkungs-Mechanismus vorliegt oder ob die Veränderung nur zufällig zeitgleich mit der Anwendung der Variable auftritt.

Eine Kausalbeziehung läge hingegen dann vor, wenn durch Kaffeetrinken in jedem Fall das Krankheitsrisiko minimiert wird, also genau das eintritt, was die Überschrift suggeriert. Es ist jedoch nahezu unmöglich in diesen Forschungsbereichen eindeutige Ursache-Wirkung-Beziehungen nachzuweisen, da zu viele unkontrollierbare Faktoren eine Rolle spielen können, weshalb man in aller Regel auf Korrelationen zurückgreift.

Mit diesem Exkurs in die wissenschaftliche Forschungsmethodik wird sich im Folgenden besser verstehen lassen, warum die Darstellung der „Tagesspiegel“-Journalisten so problematisch ist.

Der Hauptkritikpunkt der Autoren lautet, dass die aktuellen Richtwerte, an denen sich Mobilfunkbetreiber orientieren müssen, um eine Zulassung zu erhalten, auf Empfehlungen der International Commission on Non-Ionizing Radiation Protection (ICNIRP) basiert und diese Werte zu niedrig angesetzt seien. Ebenso steht der Vorwurf im Raum, ICNIRP würde aktuelle Forschungsergebnisse als nicht relevant genug einschätzen, um die eigenen Empfehlungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Dass die ICNIRP darüber hinaus eine private Non-Profit-Organisation ist, die trotz mangelnder amtlicher Weisungsgewalt international anerkannt wird, erscheint den beiden Journalisten als überaus suspekt, denn so könne eine ergebnisoffene Forschung kaum gewährleistet werden.

Selektive Wahrnehmung

Doch vor welchen aktuellen Erkenntnissen verschließen die Mitglieder der ICNIRP nun angeblich die Augen?

Einerseits verweisen Schumann und Simantke auf einen Bericht der ebenfalls privaten Vereinigung BioInitiative (die Ironie im Hinblick auf die Kritik an der ICNIRP ist den Journalisten offensichtlich nicht bewusst). Darin schreiben die Autoren, dass es überzeugende Hinweise darauf gibt, dass die elektromagnetische Strahlung von Mobiltelefonen für den Menschen karzinogen, also krebserregend ist. Entgegen der Darstellung des Tagesspiegels wurde der Bericht allerdings bereits kurz nach Erscheinen zum Gegenstand einer regen Debatte unter relevanten staatlichen Institutionen wie dem niederländischen Gesundheitsrat, dem Australian Centre for Radiofrequency Bioeffects Research oder der Europäischen Kommission für elektromagnetische Felder.

Alle Einschätzungen dieser Institutionen kamen zum übereinstimmenden Schluss, dass die Art und Weise der Quellenauswahl durch das BioInitiative-Team hochgradig selektiv war, widersprechende Ergebnisse ignorierte und sich weder um Ausgewogenheit noch um eine ordnungsgemäße Wiedergabe des aktuellen Status wissenschaftlicher Forschung bemühte. Nun liegt die Auseinandersetzung mit diesem Bericht schon einige Jahre zurück, was wohl auch Schumann und Simantke aufgefallen ist, weshalb sie anschließend ihre größte Trumpfkarte ausspielten: Eine aktuelle Untersuchung des US-Gesundheitsministeriums im Rahmen des National Toxicology Program. Die Ergebnisse dieser Studie sollen jetzt endgültig bewiesen haben, dass die kontinuierliche Bestrahlung von lebenden Zellen durch Mobilfunk Krebs verursachen kann.

Allerdings sind die Resultate bei Weitem nicht so eindeutig, wie die beiden Journalisten das gerne hätten. Denn eine unmittelbare Übertragung von Ergebnissen mit Versuchstieren auf den Menschen, ist nicht zulässig. Solche Studien vermitteln stets nur Anhaltspunkte darüber, dass es Effekte geben könnte, die unter Umständen auch auf den Menschen zutreffen. Ein Beweis dafür sind sie allerdings längst nicht. Pharmazeuten können ein Lied davon singen, dass neue Medikamente zwar oftmals vielversprechende Ergebnisse in Tierversuchen zeigen, aber bei der Anwendung am Menschen scheitern. Aus einer erhöhten Krebsgefahr für Ratten zu schließen, dass diese auch für den Menschen gilt, ist methodisch schlicht falsch.
Hätten Schumann und Simantke die Studie tatsächlich gelesen, wüssten sie das auch. Denn die Autoren machen dies an mehreren Stellen deutlich, indem sie unter anderem schreiben:

„However, exposure to such high levels of RFR is not reflective of the scenario of human exposure from cell phones and other wireless communication devices, which involves episodic exposure to much lower power levels.”
(Vgl. S. 119)

[…]

“This lends credence to the possible association of these tumors with cellular phone use. The cellular origin of malignant gliomas in the rat brain is unclear, but they do arise from glial cells (support cells in the brain), as do human glioblastomas, so it is possible that such an association exists for these tumors as well. However, the interpretation of these findings with respect to specific risks to humans from cellular telephone use is beyond the scope of the current studies.”
(Vgl. S. 125)

Die Tiere wurden bereits im Mutterleib jeden Tag einer neunstündigen Ganzkörperbestrahlung über einen Zeitraum von zwei Jahren ausgesetzt – also einer Strahlenbelastung, die meilenweit über der liegt, die der größte Smartphone-Junkie je erleben würde.

Es wird sogar noch interessanter: Jene männlichen Ratten, die Mobilfunkstrahlung ausgesetzt waren, wiesen eine geringere Sterblichkeitsrate als ihre Kontrollgruppen auf (Vgl. S. 7). Nun passt es natürlich nicht ins technophobe Narrativ, einen Artikel mit dem Titel „Handys sorgen für erhöhte Lebenserwartung“ zu veröffentlichen. Diese Herangehensweise ist vieles, aber mit Sicherheit kein guter Wissenschaftsjournalismus.

Wissenschaftler trifft Mitschuld

Es wäre jedoch nicht fair, die Schuld nur bei den Journalisten zu suchen, die wohl nie gelernt haben, wie man wissenschaftliche Studien interpretiert. Auch die Forscher selbst müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, teilweise sehr unglückliche Formulierungen zu verwenden. So schreiben sie beispielsweise:

„In females, there were occurrences of malignant glioma of the brain at 1.5 and 6 W/kg in the CDMA and GSM studies, respectively, and single instances of glial cell hyperplasia at 3 W/kg in the GSM study and at 3 and 6 W/kg in the CDMA study. None were observed in any of the female sham controls. The occurrence of malignant gliomas was judged to be equivocal evidence of carcinogenic activity of CDMA-modulated RFR in female rats.”
(Vgl. S. 122)

Entscheidend ist vor allem die Aussage „was judged to be equivocal evidence”, heißt, die Ergebnisse waren mehrdeutig. Das ist allerdings in Anbetracht der Datengrundlage eine überaus großzügige Interpretation. Von 90 untersuchten weiblichen Ratten wiesen lediglich 2 Hinweise auf Hirntumore auf (Vgl. S. 110) – korrekter wäre daher die Aussage, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Handystrahlung in weiblichen Ratten zu Hirntumoren führt, äußerst gering ist. Falls sie überhaupt dafür als Ursache infrage kommt.

Die begrenzte Anwendbarkeit dieser Studie auf das menschliche Leben findet ihren erheiternden Höhepunkt in einer Aussage, die John Bucher, seines Zeichens einer der verantwortlichen Wissenschaftler der Untersuchung, im Zuge eines Interviews mit Reuters getroffen hat:

„I wouldn’t change my behavior based on these studies, and I haven’t.”

Wenn also nicht einmal die Leute, die es tatsächlich besser wissen, ihr Verhalten ändern, weil offenbar das Risiko nicht hoch genug ist und daher keinerlei Anlass besteht, bleibt am Ende nicht viel vom Schreckgespenst der krebserregenden Handystrahlung übrig, das die Autoren des „Tagesspiegels“ hier zeichnen wollen.

Die sinnvolle Einordnung wissenschaftlicher Studien ist selten einfach. Nicht ohne Grund wird Studenten zu Beginn ihres Studiums in aller Regel über mehrere Semester beigebracht, wie sie mit solchen Informationen richtig umgehen. Mangelt es an diesem Wissen, so sieht man dessen Konsequenzen im schlimmsten Fall in großen Tageszeitungen publiziert. Wer durch solche Artikel in latente Panik geraten ist, dem sei hiermit versichert, dass er sein Smartphone auch weiterhin wie gewohnt nutzen kann, ohne sich Gedanken über gesundheitliche Folgen machen zu müssen. Lediglich beim Autofahren sollte man den Blick davon abwenden – denn das kann ansonsten tatsächlich tödlich enden.