Sind die Demokratien in Gefahr? Angesichts der politischen Entwicklungen in den letzten Jahren muss man diese Frage bejahen. Das hat gut identifizierbare Gründe. Sie zu kennen ist ein Anfang, um der Gefahr trotzen zu können.

Ich bin in einer Demokratie geboren. Das ist angenehm und ein großes Glück! Ich kann weitgehend tun und lassen, was ich will, sagen, was ich will – und wenn ich nicht mit 150 Sachen durch die Stadt rase oder den nächsten Passanten mit einem Messer traktiere, komme ich mit unserem demokratischen Staat nur selten in Kontakt, obwohl ich als Bürger im Geflecht seiner Leistungen lebe. Im Großen und Ganzen hält er mir auch die anderen Raser und Messerstecher vom Leib, so dass ich eigentlich ohne Angst leben kann. Die Institutionen funktionieren besser, als es scheint – wenn man beiseite lässt, dass die Hauptstadt ein Problem mit dem Bauen und die Bahn mit ihrem Fahrplan hat. Und wenn der Staat überfordert ist, dann ist da ja auch noch eine selbstbewusste, bunte Institution, die man „Zivilgesellschaft“ nennt und die bei vielem aushilft. Besonders schön finde ich, dass die politischen Ämter auf Zeit sind und dass das Volk regelmäßig zusammenkommt, um sich eine neue Regierung zu geben. Und dann der Wohlstand, den Demokratie und Marktwirtschaft mit sich bringen: Heute lebt ein Fabrikarbeiter besser als ein König vor 150 Jahren. Er hat die bessere Gesundheitsversorgung; eine bessere, abwechslungsreichere Ernährung; er kann in wenigen Stunden ohne viel Aufwand um die halbe Welt reisen und sich in Echtzeit mit dem eigenen Kind unterhalten, dass gerade ein Praktikum für die Vereinten Nationen in Vietnam macht. Sicher, der König hatte ein Schloss, aber dafür hat er wahrscheinlich im Winter trotz der Kamine eher gefroren als der Arbeiter auf seinem Sofa daheim.

Es gäbe gewiss jetzt viele Einwände vorzubringen, weil dieses und jenes nicht so perfekt klappt, wie ich es darstelle; weil nicht jeder dieses warme Sofa habe; weil ich bestimmte Voraussetzungen dieser Lebensweise unterschlage. Trotzdem ziehe ich die Demokratie aus genannten Gründen jeder anderen Herrschaftsform vor. Und wünsche sie mir auch für unsere Kinder und Kindeskinder.

Ich bin überzeugt, dass sehr, sehr viele Menschen genauso oder so ähnlich über die Demokratie denken wie ich. Viele tun das nicht. Darin lag bislang keine größere Schwierigkeit, denn der demokratische Verfassungsstaat funktioniert auch dann, wenn ihm ein Teil seiner Bürger distanziert oder sogar ablehnend gegenüber steht. Es ist ohnehin eine recht komplizierte Sache, was wir „Gesellschaft“ nennen. Denn genau genommen denkt und fühlt niemand genau so wie man selbst. Und trotzdem sind wir uns bislang nicht an die Gurgel gegangen – weil wir die Regeln akzeptieren und weil wir einander den nötigen minimalen Respekt entgegenbringen, der für einen gedeihlichen, zivilen Umgang notwendig ist. – Aber genau hier beginnt das Problem. Und die Sorge.

LANGMUT UND TOLERANZ

Diesen Respekt, der als eine Grundlage jeder offenen Gesellschaft und einer parlamentarischen Demokratie verstanden werden muss, kann von der Politik nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln erzwungen werden, ohne dass Freiheit und Demokratie Schaden nehmen. Das ist die Krux eines jeden freiheitlichen Verfassungsstaates. Doch die Demokratie braucht „institutionellen Langmut und gegenseitige Toleranz“, wie es die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch How Democracies Die schreiben. Ohne diesen Langmut und diese Toleranz können die Demokratien nicht existieren. Das bedeutet, dass Politiker (und wir alle) politisch Andersdenkende nur als Gegner ansehen dürfen, aber nicht als Feind – ein Gegner, mit dem man eventuell sogar zum Wohle des Gemeinwesens zusammenarbeiten muss.

Der heute oft gehörte Vorwurf, ein „Volksverräter“ zu sein, zerstört diesen Langmut und vergiftet die politische Kultur der Toleranz. Und es gibt nur einen Weg, diese politische Kultur zu erhalten: durch eine vorbildliche Praxis. Diese Kultur muss tagtäglich gelebt werden in Sprache, Stil, Umgangsformen. Der sogenannte „Politische Aschermittwoch“ passt daher beispielsweise nicht in diese Kultur – er gehört abgeschafft. Bierzeltrhetorik ist der Weg in den Abgrund. Das sehen wir an bestimmten Politikern der AfD ganz deutlich, die ihre Meuten aufzustacheln wissen.

Die Politik selbst muss der Gärtner im politischen Treibhaus sein und die Kulturpflanzen hegen und pflegen, sprich: sich der populistischen Attitüden enthalten, wieder unterscheiden lernen zwischen Polemik und Polterei, den politischen Hooliganismus begrenzen.

Die kulturelle Verrohung kommt natürlich auch aus der Gesellschaft und wird am liebsten und effektivsten online vollzogen. Die sozialen Medien sind schon zu lange zu einem blubbernden Biotop aus Lug und Trug, der Ehrabschneidung, Verunglimpfung und Bedrohung geworden. Aber auch hier gilt, dass die politischen und medialen Eliten als Vorbilder vorangehen müssen. Nicht der Skandal sollte im Vordergrund stehen, sondern das starke Argument. Ein frommer Wunsch in Zeiten der medialen Überbietungswettbewerbe. Aber man darf ja wohl noch wünschen und hoffen.

EINIGE GEFAHRENGRÜNDE

Die politische Verrohung ist nur die eine Seite, warum die Demokratie in der westlichen Welt ernsthaft in Gefahr ist. Einige andere Gründe – gerade auch in der Europäischen Union – sind die Folgenden: das Versagen der Eliten durch ihre Selbstbezüglichkeit, die Aushöhlung des Rechtsstaates, die Einschüchterung und Manipulation der Medien, eine geschwächte oder noch nicht entwickelte Zivilgesellschaft, ein steigernder Einfluss des großen Geldes, der Verlust an parlamentarischer Debatte, die große Zahl politischer Entscheidungen an den Volksvertretungen vorbei. All dies sind Gründe für eine institutionelle und legitimatorische Schwächung der Demokratie, für das sinkende Vertrauen großer Teile der Bevölkerungen. Dieser Vertrauensverlust ist die Achillesferse der modernen Demokratien. Auf diese Stelle zielen die Rechtspopulisten selbstbewusst und ohne jede Zurückhaltung.

Levitsky und Ziblatt haben in ihrem Buch vier Instrumente herausgearbeitet, mit denen Rechtspopulisten arbeiten: Erstens, sie bekennen sich nur halbherzig bzw. widersprüchlich zu demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln, oder sie weisen sie sogar offen zurück. Zweitens bestreiten sie die Legitimität von politischen Gegenpositionen (man kennt ja mittlerweile die rhetorischen Figuren der Rechtspopulisten, mit denen andere Meinungen herabgewürdigt werden, weil sie angeblich nicht das Volk repräsentierten). Sie rufen, drittens, auf zu Gewalt oder tolerieren diese zumindest. Und sie sind, viertens, bereit, die Grundrechte politischer Gegner einzuschränken, insbesondere die der Medien, aber auch der Zivilgesellschaft.

Für Levitsky und Ziblatt befindet sich eine Demokratie dann in Gefahr, wenn eine Regierung bzw. ein Machthaber nur eine dieser Kriterien erfüllt. Sie brauchen für ihre amerikanischen Leser nicht betonen, dass Trump alle vier Kriterien erfüllt. Und selbst wenn Trump bei der nächsten Wahl abgelöst würde, so änderte es doch nichts daran, dass die politische Kultur in den USA auf lange Zeit verdorben ist und der Vertrauensverlust der Demokratie immens.

Wie aber steht es mit den anderen westlichen Demokratien, vor allem die in Europa? Die definierten Schwachstellen finden sich auch hier fast überall. Nur der Erfolg der Populisten ist unterschiedlich. Die Regierungen in Ungarn und Polen beispielsweise versuchen ziemlich ungeniert, die eigene Macht zu konservieren und zu verhindern, überhaupt abgewählt zu werden. Und die Mehrheiten scheinen es bislang zu honorieren. Extremismus hat anscheinend einen gewissen Sexappeal, er hat seine diktatorische Fratze noch nicht zeigen müssen, aber er arbeitet mit seinem übersteigerten Nationalismus beharrlich darauf hin. Was ihn aber zuallererst stark macht – das sind die Fehler der Demokraten.

In Deutschland konnten wir ja gerade in den letzten Tagen mal wieder die antibürgerlichen Haudraufs der AfD erleben. Wie man mit ihnen umgehen soll, damit der Zuspruch für sie nicht weiter wächst, darüber kann man leidlich streiten. Nur eines scheint jedoch auch hier klar: Wie weit sie politisch kommen werden, hängt von der Stärke der Demokraten ab – und wie schnell sie sich besinnen und die genannten Schwachstellen unserer demokratischen Politik beheben.