Rasiererhersteller Gillette veröffentlicht ein neues Werbevideo. Das halbe Internet dreht daraufhin durch und beweist damit, wie schwer es ist, einfach nur nett zu sein.

Jüngst veröffentlichte das zu Procter & Gamble gehörende Unternehmen Gillette einen Videoclip, in dem es klare Position zur #MeToo-Bewegung und zum Kampf gegen übergriffiges Verhalten bezieht. So weit, so normal, könnte man meinen. Unternehmen äußern sich inzwischen häufiger in Form von Werbekampagnen zu aktuellen, gesellschaftlichen Debatten. Prominentestes Beispiel der jüngeren Geschichte ist die Zusammenarbeit zwischen dem Sportartikelhersteller Nike mit dem ehemaligen NFL-Spieler Colin Kaepernick. Dieser startete 2016 eine Protestaktion gegen Polizeigewalt, die sich seines Erachtens oftmals gezielt gegen dunkelhäutige Menschen richtete.

Gillette bekennt sich nun offen zu den Zielen der #MeToo-Bewegung und ähnlicher zivilgesellschaftlicher Initiativen, deren Vorhaben darin besteht, Missstände im Umgang von Menschen untereinander zu beheben. Es wurde in den vergangenen Jahren sehr viel über diese Bewegungen debattiert und oft wurde dabei ihre Relevanz bezweifelt. Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass man es mit dieser „Political Correctness“ doch auch übertreiben könne und durch derartigen Aktivismus nur die Gefahr vergrößert wird, dass Männer zum Opfer falscher Beschuldigungen werden. Doch diese Annahme basiert auf einer Fehlwahrnehmung. Nicht jeder Beschuldigte ist ein Kachelmann. Solche Fälle sind eher die Ausnahme als die Regel. Das konnten britische Forscher bereits vor mehreren Jahren empirisch belegen: Von 2643 angezeigten Fällen sexueller Übergriffe wurden lediglich 216 als falsch dokumentiert. Natürlich, das sind immer noch 216 zu viel, aber weit entfernt von der Mehrheit. Im übrigen wurden nur 126 dieser Beschuldigungen überhaupt formal gegenüber der Polizei festgehalten; lediglich 39 gaben einen Tatverdächtigen an; in sechs Fällen wurde eine Verhaftung durchgeführt und in nur zwei Fällen kam es überhaupt zu einer Verhandlung, bevor die Beschuldigungen zurückgewiesen worden. Die Wahrscheinlichkeit, dass man tatsächlich einer Falschaussage zum Opfer fällt und dafür auch bestraft wird, ist verschwindend gering.

Wie hoch ist nun die Relevanz dieser Debatte? Die Frage beantwortet ein Blick in die Kommentarspalte unter dem Gillette-Video. Kommentare in sozialen Medien zu lesen, ist in den allermeisten Fällen ohnehin bereits eine sehr zuverlässige Methode, um sich den Tag zu verderben, doch hier wird man dieses Umstands noch einmal in aller Deutlichkeit gewahr. Nicht nur die überaus schlechte Gesamtbewertung des Videos selbst, sondern auch der Großteil der Kommentare sprechen Bände darüber, wie relevant diese Debatte immer noch ist und wohl auch in Zukunft weiterhin sein wird. Die Reaktionen der meisten Zuschauer lesen sich wie Lehrbuchbeispiele über sogenannte „Bestätigungsfehler“, also die Tendenz, verfügbare Informationen danach auszuwählen und so zu interpretieren, dass sie mit den eigenen Weltanschauungen übereinstimmen. Eine sachliche Analyse des Bildmaterials zeigt genau nicht, was das Gros der Kommentatoren dort sehen will. Denn was ist im Video tatsächlich zu sehen? Die Akteure sprechen sich dafür aus, bewusster miteinander umzugehen und die Grenzen anderer Menschen respektieren zu lernen. Man plädiert dafür, dass Gewalt im alltäglichen Umgang kein Mittel der Problemlösung darstellen soll, dass Frauen denselben Respekt wie Männer verdienen und es nicht mit einem „Jungs sind eben Jungs“ zu rechtfertigen ist, wenn Buben andere Kinder mobben oder verprügeln.

Die besten sind keine Astlöcher

Eigentlich eine recht vernünftige Ansicht. Offensichtlich sehen das viele Nutzer anders. Ihrer Meinung nach ist Gillette der neuste Mittäter einer globalen Verschwörung, die das perfide Ziel verfolgt, alle weißen, heterosexuellen Männer zum absolut Bösen zu erklären. Man räsoniert darüber, ob es denn nun kriminell wäre, auch nur mit einer Frau reden zu wollen und dass es am Ende nur noch verweichlichte Muttersöhnchen gebe, die niemals die animalischen Freuden einer zünftigen Prügelei am eigenen Leib erfahren durften. Die sich echauffierenden Mimosen finden ihren argumentativen Höhepunkt darin, dass man als Mann mittlerweile überhaupt nicht mehr „Mann“ sein dürfe. Stück für Stück falle jedwede Männlichkeit dem Diktat sogenannter „Social Justice Warriors“ zum Opfer. Wenn man unter „Männlichkeit“ versteht, dass sexistisches, homophobes oder gewalttätiges Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen zum zentralen Bestandteil der eigenen Identität gehört – dann steigt tatsächlich der gesellschaftliche Widerstand gegen einen derartigen Habitus. Während noch vor wenigen Jahrzehnten kaum jemand ein Wort über die Unsäglichkeit dieses Benehmens verloren hat, befinden sich die westlichen Gesellschaften diesbezüglich aktuell inmitten eines Paradigmenwechsels. Jene Menschen, die seit Jahren Ziel und Opfer von Übergriffen aller Art waren, finden nun den Mut, sich häufiger Gehör zu verschaffen – und, das ist neu – die Gesellschaft hört ihnen zu. Menschen, die dadurch ihr Selbstbild bedroht sehen, verdeutlichen ihre eigene Unsicherheit. Offenbar haben sie Schwierigkeiten damit umzugehen, dass die Welt ganz generell zu einem angenehmeren und lebenswerteren Ort für alle Menschen wird. Unabhängig von Herkunft, Aussehen, Geschlecht oder ähnlich trivialen Kriterien.

Diese Ansicht gehört mittlerweile auch zum Selbstverständnis von Gillette und wird sich in Zukunft verstärkt in der Öffentlichkeitsarbeit des Unternehmens widerspiegeln. Durch die proaktive Auseinandersetzung mit gesellschaftlich zementierten Stereotypen sowie den damit verbundenen Erwartungen an das männliche Selbstbild, soll der Weg für ein reflektierteres Rollenverständnis des Mannes bereitet werden. Anstatt den Fokus auf die romantisierte Wildheit des männlichen Geschlechts zu legen und sich der immer gleichbleibenden Argumentation zu bedienen, dass „Männer eben Männer sind“, sieht Gillette die eigene Verantwortung darin, kontinuierlich für ein harmonischeres und respektvolleres Miteinander zu werben.

Mit dieser Kampagne geht Gillette ein erhebliches unternehmerisches Risiko ein. Eine allzeit einsatzbereite Empörungsindustrie kann durch gezielte Shitstorms innerhalb weniger Tage Milliarden an Unternehmenswerten vernichten (man erinnere sich an United Airlines, das nach einer Social-Media-Krise plötzlich 1,4 Milliarden Dollar weniger wert war). Viele der Kommentatoren rufen euphorisch zum Boykott des Konzerns auf und prognostizieren schon voller Vorfreude einen gnadenlosen Untergang, den sie als die unausweichliche Strafe für ein derart frevelhaftes Marketing betrachten. Doch noch sind die Würfel nicht gefallen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt verzeichnet der Gillettes Mutterkonzern Procter & Gamble keine nennenswerten Kursverluste, daher bleibt abzuwarten, ob die überhitzten Gemüter den Worten auch reale Taten folgen lassen werden. Es besteht auch die Möglichkeit, dass Gillette durch diese Kampagne genau den richtigen Riecher beweist und letztlich unerwartet stark profitiert. So erging es Nike im Zuge der Zusammenarbeit mit Kaepernick. Die Aktienwerte des Unternehmens erreichten ein Allzeithoch und der digitale Vertrieb konnte eine Umsatzsteigerung von 36 Prozent verzeichnen. Man darf also gespannt bleiben, ob Gillette das eingegangene Risiko am Ende finanziell bereuen wird.

In jedem Fall bleibt es zu begrüßen, dass immer mehr Unternehmen ihre eigene Kommunikationskultur hinterfragen und ein inklusiveres sowie friedlicheres Miteinander als erstrebenswerte Ziele erkennen. In einer Zeit, in der durch hochrangige Politiker genau das Gegenteil versucht wird, stimmt es vorsichtig optimistisch, wenn sich stattdessen die Zivilgesellschaft dieser wichtigen Aufgabe annimmt.