Frank Kunert fotografiert „kleine Welten“. Seine menschenleeren Bilder, die jetzt in mehreren Ausstellungen zu sehen sind, erzählen viele Geschichten. Im Interview spricht er über den Reiz von Gebrauchsspuren, das Unperfekte und die Kraft der Melancholie.

Herr Kunert, können Sie hellsehen?

Wie kommen Sie darauf?

„Privatsphäre“ (Titelfoto) zeigt ein Wirtshaus, in dem die Gäste zwischen Trennwänden aus Holz sitzen sollen. Das ist verschärftes Social Distancing, das Bild entstand aber bereits im Jahr 2017.

„Privatsphäre“ hatte ursprünglich nichts mit Viren und Ansteckungsgefahren zu tun, auch wenn das Bild durch Corona eine zusätzliche Lesart bekommt. Mein Ausgangsgedanke damals war die Gesprächskultur im Internet, die immer mehr zu wünschen übrig lässt. Ich habe mich gefragt, wie man die dort herrschende extreme Art zu kommunizieren in die analoge Welt übersetzen könnte. Und der Titel deutet auch auf das Bedürfnis hin, sich vor dieser Entwicklung zu schützen.

Ihre Bilder verströmen eine gewisse Tristesse. Sind Sie ein melancholischer Typ?

Ja, schon. Ich ziehe mich gern zurück. Als Kind habe ich am liebsten für mich allein in meinem Zimmer gebastelt, gemalt und geschrieben. Ich habe auch ein Faible für alles, was nicht ganz glatt und einfach ist. Man darf Melancholie aber nicht mit Resignation gleichsetzen. In der Zurückgezogenheit kann man Kraft schöpfen und Ideen entwickeln. So geht es mir, wenn ich in meinem Atelier vor mich hin bastle und fotografiere.

Ihre Miniatur-Welten sind immer menschenleer. Warum?

Es gibt dort zwar keine Miniaturmenschen. Aber die kleinen Welten werden von Menschen bewohnt, die ja überall ihre Lebenszeichen und Spuren hinterlassen. Ich denke, dass sich die Betrachter so leichter in eine Szene hineindenken können. Es soll wie ein Bühnenbild wirken oder wie eine Kulisse, in die man hineinschlüpfen kann. Personen würden stören, weil man sich dann als Erstes mit diesen Figuren und mit einer dazu imaginierten Geschichte beschäftigen würde.

Träumen Sie manchmal, dass Sie in ihren Kulissen leben?

Tatsächlich ist mir das noch nie passiert. Aber vielleicht heute Nacht?

Sie bauen diese kleinen Welten etwa im Maßstab 1:20 und fotografieren sie. Ihre Ausstellungen sind Foto-Ausstellungen. Was ist der Reiz daran, dreidimensionale Modelle wieder in eine zweidimensionale Kunstform zu übersetzen?

Im Entstehungsprozess ist mir beides gleich wichtig: das Bauen und das Fotografieren. Manchmal stelle ich auch die jeweiligen Modelle zu den Fotografien aus, mache also nicht immer reine Fotoausstellungen. Der Reiz des Fotografierens von Modellen liegt unter anderem darin, dass Fotos den Miniatur-Maßstab vergessen machen und die Welten realer wirken lassen, als es das Modell kann.

Lassen Sie uns über Patina sprechen. Die Dinge auf Ihren Bildern wirken oft ein bisschen ranzig, irgendwie verbraucht. Haben Sie eine spezielle Kunert-Tinktur entwickelt, die Oberflächen im Zeitraffer altern lässt?

Nein, da gibt es keinen Trick. Oft bringe ich viele Farbschichten und Lasuren hintereinander auf, bis ich das gewünschte Ergebnis erzielt habe. Oberflächen müssen sprechen. Es stimmt schon, ich arbeite viel mit Braun, Ocker und Dunkelgrau. Wasserspuren an einer Hausfassade kann man gut mit helleren Grautönen imitieren. Generell mag ich es, wenn man den Dingen das Leben ansieht. Heute wird ja viel weggeschmissen, sobald es Gebrauchsspuren hat.

Ihre Fassaden dürften die Älteren an eine Kindheit in den 50er, 60er oder 70er Jahren erinnern. Oder an die DDR. Das dreckige Grauocker von Häusern, wo jahrzehntelang nichts gemacht wurde, ist aus unserem Stadtbild ja so gut wie verschwunden. 

Oh nein, da muss ich widersprechen! In Berlin oder im Ruhrgebiet findet man dieses Grauocker auch heute noch. Auch in reicheren Städten, wenn man in die Hinterhöfe geht oder sich in Baubrachen umschaut. Ob meine Faszination dafür eine Erinnerung an meine Kindheit ist? Vielleicht. Dinge werden für mich spannend, wenn sie sichtbar ein Leben hatten. Wenn sie Belastungen ausgesetzt waren. Ein Neubaugebiet spricht nicht zu mir. Da fehlen mir auch die alten Bäume und Pflanzen, die eine architektonische Hässlichkeit zuwachsen und sie doch noch schön machen können, irgendwie.

Welches Material verwenden Sie am häufigsten? Und wie schaffen Sie es, die hübschen kleinen Toiletten so aussehen zu lassen, als wären sie aus echtem Porzellan?

Am häufigsten arbeite ich mit Hartschaumplatten, wie man sie auch für Architekturmodelle verwendet. Manche Platten verwende ich mehrfach, weil ich nicht alles fest verklebe. Ich arbeite ja immer auf die Fotografie hin, danach wird durchaus ‚rückgebaut‘ und zweitverwertet. Die hübschen kleinen Toiletten modelliere ich nicht selbst, die kaufe ich im Spielwarenhandel. Das gilt auch für Teile des Inventars wie Geschirr, Töpfe, und so weiter.

Viele Fotos beschäftigen sich mit der Vergeblichkeit unserer täglichen Mühen. Ist das Leben absurd?

Das Leben kommt mir mal mehr und mal weniger sinnvoll vor, das ändert sich täglich und manchmal sogar stündlich. Geht es Ihnen nicht auch so? Aber selbst dann, wenn man zum Schluss kommt, dass das Leben absurd ist, kann man ja guten Mutes weitermachen. Das Scheitern ist nicht weniger interessant als das Gelingen, und fast immer hat es mehr Witz.

Werke von Frank Kunert sind zu sehen in Stuttgart: 11. November 2020 bis 6. Januar 2021. GALERIE Z. München: 14. November bis 20. Dezember 2020. Galerie Gopho. Wittlich: 10. Januar bis 7. Februar 2021. FLUX4ART, Casa Tony M. Celle: 4. Juni bis 10. Oktober 2021. Bomann-Museum. Geeste: 20. Juni bis 30. September 2021. Emsland Moormuseum. Marburg: Herbst 2021. Marburger Kunstverein. Bad Wildungen: 5. Dezember 2021 bis 20. Februar 2022. Wandelhalle.