Terror in den Metropolen – es scheint, als solle keine verschont bleiben. Das ist wohl die Botschaft des internationalen Dschihadismus. Tatsächlich stellt sich ein gewisser Gewöhnungseffekt ein, der verhängnisvoll sein könnte.

Es war im März 2008, als auf bewährt klandestinen Pfaden die Tonaufnahme eines Mannes, von dem man einige Zeit nichts gehört hatte, in den Nachrichtenstudios der Welt eintraf. Seine Botschaft war an die Europäische Union gerichtet und, wie stets, an alle seine Feinde im Westen. Es ging in der Aufnahme um die Mohammed-Karikaturen, die einige Jahre zuvor in dänischen Zeitungen veröffentlicht worden waren: Der Führer der Terrororganisation Al Qaida, Osama bin Laden, erklärte in mutmaßlich verspäteten, aber unmissverständlichen Worten, dass diese Karikaturen Beleidigungen gegen den Propheten seien und schlimmer als Bomben auf muslimische Dörfer; deswegen, so seine Drohung, werde die Abrechnung dafür auch noch schlimmer ausfallen: „Ihr habt es in eurem Unglauben übertrieben, indem ihr diese beleidigenden Zeichnungen veröffentlicht habt.“

Knapp sieben Jahre später erfolgte der Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, eine Zeitschrift, die auch von Zeit zu Zeit Mohammed-Karikaturen veröffentlichte. Die beiden Attentäter schrien, nachdem sie ein Dutzend Menschen erschossen hatten, ebenso unmissverständlich, sie hätten mit ihrer Tat den Propheten gerächt. Wie wir heute annehmen können, kam der Auftrag für den Terroranschlag von Al Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAH), einer Dependance der weltweit agierenden Organisation im Jemen.

Wenige Wochen darauf der Anschlag in Kopenhagen. Ziel war einer der sogenannten „Mohammed-Karikaturisten“; danach, als wollte man in einem Abwasch noch ein anderes Hassobjekt mit erledigen und den Anschlag in Paris in seiner Logik imitieren, musste noch ein jüdischer Wachmann vor einer Synagoge sterben. Weitere Opfer verhinderten wohl die Sicherheitsvorkehrungen, die nach den Anschlägen von Paris installiert worden waren. Aber natürlich ging der Terror weiter. Er hat nie aufgehört.

Nun könnte der sogenannte „Islamische Staat“ seine Drohungen wahrgemacht und verheerenden Terror auch nach Berlin, London, St. Petersburg, Stockholm gebracht haben, in Metropolen, die für ihre Kultur und ihre Vitalität stehen. Wirklich überraschend ist es tatsächlich nicht, denn die Wirkmächtigkeit der islamistischen Terrordrohungen, -befehle und Verwünschungen übertrifft bereits Generationen. Die Beweggründe und Ziele der Attentäter sind alles andere als neu, sie sind schon lange festgeschrieben: in den Worten und Taten ihrer Vorgänger und Vorvorgänger, ihrer Auftraggeber und Vordenker. Denn der Islamismus ist nicht nur zu jenen potenten, langlebigen, todbringenden Ideologien abendländischer Provenienz hinzugetreten, die als eine Mischung aus geologischen Verwerfungen und brodelndem Magma unter dem Boden der Zivilisation liegen, sondern entwickelt an immer mehr Stellen fortdauernd seinen ganz eigenen politischen Vulkanismus mit verheerenden Folgen für ganze Regionen.

Wiege und Utopie der Zivilisation?

In den letzten Jahren hat es einen enormen Anstieg bei der Zahl von Terroranschlägen und -opfern gegeben: Im Jahr 2013 waren es fast 10.000 Anschläge mit rund 18.000 Todesopfern, 2015 lagen die Opferzahlen – je nach Zählung – bei rund 30.000. Wenn auch nicht alle auf den militanten Islamismus zurückzuführen sind, so entfallen doch rund Dreiviertel auf die folgenden fünf Länder: Irak, Syrien, Nigeria, Afghanistan, Pakistan. Verantwortlich für zwei Drittel der Toten bei Anschlägen sind allein Al Qaida, Taliban, Boko Haram, Islamischer Staat (IS) – wie der Global Terrorism Index jedes Jahr minutiös errechnet. Dabei hat sich der IS momentan als der potenteste Global Player des islamistischen Terrors etabliert, wie die Anschläge der „Ramadan-Offensive“ in Frankreich, Kuweit und Tunesien sowie in den vergangenen Jahren in Paris, Brüssel, Berlin usw. beweisen.)

Tatsache ist: Seit dem Jahr 2000 haben sich die Zahl der Anschläge und die Zahl der Todesopfer insgesamt mehr als verfünffacht, mit einem besonders starken Anstieg in den letzten Jahren in den oben genannten Konfliktländern.

Es gibt mehrere Gründe für die Ausweitung der islamistischen Kampfzonen: Vormalige Terrorzellen wie der IS, der aus der Al-Qaida-Organisation des Jordaniers Abu Musab al-Zarqawi hervorgegangen ist, haben sich zu Milizen gewandelt, die mit der Erweiterung ihrer Schlagkraft auch ihre Mittel diversifizierten; so ist ein Mehr-Ebenen-Krieg entstanden: asymmetrisch, symmetrisch, psychologisch, medial und, ja, im Falle des IS sogar „schöpferisch “. Es genügt ihnen nicht, durch Terror Angst zu erzeugen, einzuschüchtern, Chaos zu verbreiten und Reaktionen zu provozieren. Mit der neuen Stärke und der Metamorphose zu militanten Großorganisationen soll der Dschihad durch wachsenden Geländegewinn nicht nur staatszersetzend, sondern nach einem „regime change“ mittlerweile auch „staatsbildend“ und „staatstragend“ werden – das Kalifat als vermeintlich greifbares Ziel wird somit auch zur realen Verpflichtung. Nachdem Mesopotamien die Wiege der Zivilisation war, soll es nun ihre Zukunft werden. Nun verkleinert sich unter dem Druck von zwei Koalitionen – der amerikanisch geführten im Irak und der russisch-iranisch geführten in Syrien – der Raum des IS gerade, aber gleichzeitig funktioniert der Dschihad immer besser als Franchise-Unternehmen, das Einflusszonen absteckt und darauf hinarbeitet, dass diese Inseln (wie Teile Libyens und des Sinai) langfristig zu einem großen Gebilde, dem erstrebten Kalifat, zusammenwachsen.

Allerdings gibt es noch weitere Triebkräfte, die den Dschihad auf längere Sicht befeuern. Wie in einem Brennglas bündeln sich im Zweistromland (und in seinen Nachbarregionen) alte und neue Konflikte: Die abgestorbenen Triebe aus dem arabischen Frühling bilden brandbeschleunigende Gewaltmärkte von Libyen bis zum Jemen. Der innerislamische Konfessionskrieg zwischen Schiiten und Sunniten, also jener Diadochenkampf um die wahre Rechtmäßigkeit der Nachfolge des Propheten Mohammed seit dem 7. Jahrhundert, nimmt an Intensität zu und findet seine Entsprechung im bislang unerklärten Krieg zwischen Iran und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft in der Region und in der Gemeinschaft der Muslime. Hinzu kommt der Kampf um Palästina, gegen die Präsenz der Amerikaner, gegen korrupte Eliten, widerständige Herrscherhäuser, nicht islamische Kultur, zwischen Ethnien und Stämmen. Das alles ist natürlich weiterhin unterfüttert vom Kampf gegen Liberalismus, Individualismus und Säkularismus, die Traditionen zersetzenden Gifte der Moderne. Zusätzlich hat sich der Dschihad vielfach verselbständigt; das Monster, der Krieg, gebiert sich selbst; die Motive schillern und wechseln; Begründungen werden beliebig; jeder und alle werden zu „Ungläubigen“, als Synonym für „Feinde“.

Man mag Feuer mit Feuer bekämpfen, man mag hoffen, dass die Konflikte sich gegenseitig fressen – doch so oder so: zurück bleiben zerstörte Städte, verbrannte Erde, Massengräber, Leichenfelder, die Entwurzelung ganzer Völker.

Den Treibstoff für diesen Flächenbrand liefern immer häufiger junge Europäer, Männer und Frauen, die sich bewähren wollen, einen Sinn suchen oder die Antithese zu einem bürgerlichen, liberalen Lebensmodell: Der Dschihadist, munitioniert durch die Überzeugungen seiner Weltanschauung, hat etwas, wofür er sein Leben einsetzt; das hat in den Augen vieler junger Menschen mehr Authentizität als das Bungee-Springen in der medialen Selfie-Arena; ja, mehr Authentizität gehe gar nicht, als sich seinen Kick im Kampf zu holen, durch Tod und Verderben.

Angefixt über die Nervenbahnen des World Wide Web, die den prädisponierten User am Smartphone, in Internetcafés und Wohnzimmern erreichen, und aufgeputscht durch High-Definition-Wochenschaubilder von allerlei Untaten machen sich viele dieser Menschen auf – wenn auch unter anderen Vorzeichen – wie erweckte, begeisterte und politisch naive Künstlerseelen im August 1914 oder wie Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg der dreißiger Jahre, um sich im Kampf auf Leben und Tod zu bewähren. Wofür?

Für eine bessere Welt natürlich. Denn die alte sei verderbt: ungerecht, sittenlos, bar jeder Tugend, respektlos gegenüber dem Islam, blind für die Schönheit des Korans, hochmütig gegenüber Gott, feind seinen Gesetzen.

Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner hat in seinem Buch Mohammedanische Versuchungen mit einem Vergleich versucht, die Bedeutung des Islam für Traditionalisten und Islamisten unserem Zeitgeist entsprechend zu veranschaulichen: In ihren Augen sei der Islam wie eine perfekte Hardware, da von Allah ersonnen, sie laufe unter allen Umständen und zu allen Zeiten einwandfrei. Eine säkularisierte Religion wäre für sie deshalb ein Fehler und ein Frevel, da sie sich von ihrem Kern und ihrer funktionellen Exzellenz entfernte, mit der man einen Staat Gottes errichten könnte.

Radikalisierung der Radikalen

Eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des Islam und eine tugendhafte und gottgefällige Lebensweise gab es schon im 9. Jahrhundert bei Ahmad Ibn Hanbal, dem Begründer jener sunnitischen Rechtsschule, die auch den puritanischen saudischen Wahhabismus prägte. Die Vorläufer des Salafismus setzten diese Forderung tausend Jahre später wieder auf die Agenda, diesmal als ideologische Speerspitze gegen die Osmanen, denen man das letzte verbliebene Kalifat abtrotzen wollte. Daraus wurde nichts. Das osmanische Reich erhielt vom Britischen Empire den Todesstoß, woraufhin die Muslimbruderschaft („Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.“) im Jahre 1928 in Ägypten mit dem Ziel gegründet wurde, die britische Vorherrschaft im Nahen Osten zu beenden und den Islam zu stärken.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war der Islamismus in der muslimischen Welt eine Bewegung, die vor allem dem Kampf gegen korrupte Eliten und die Modernisierungsbemühungen autokratischer Herrscher galt. Zwar bedeutet Modernisierung immer Entfremdung, aber jene bedeutete in den arabischen Ländern meist Säkularismus gepaart mit Absolutismus, betrieben von Despoten und Menschenschindern wie die sich Sozialisten nennenden Assads, Hussein, Ghaddafi usw. Modernisierungsgewinne in Form funktionierender Infrastrukturen, einem breiter verteilten Wohlstand und nicht zuletzt gleicher politischer Teilhaberechte blieben den breiten Massen zudem vorenthalten.

Mit dem Jahr 1979 schließlich bekam der Islamismus einen Schub, der ihn bis heute über Grenzen treibt, aber auch seine Radikalisierung erhöhte. Vier Ereignisse machen dieses Jahr zu einem Epochenjahr:

Im Februar kehrte der Ajatollah Chomeini aus dem französischen Exil zurück und begann nach dem Sturz des verhassten Schahs Reza Pahlavi mit der Errichtung eines Gottesstaates nach seinen Vorstellungen.

Es war ein Erfolg mit Strahlkraft, die sich noch verstärkte, als Anfang November die amerikanische Botschaft in Teheran gestürmt und das Botschaftspersonal als Geiseln genommen wurde. Chomeini hat nie Zweifel daran gelassen, dass er die islamische Revolution im Iran als Vorbild für den internationalen Kampf in der Tradition des Propheten ansah: „Die iranische Revolution gehört nicht allein Iran, denn der Islam gehört nicht einem bestimmten Volk. Der Islam ist der gesamten Menschheit offenbart worden (…). Eine islamische Bewegung kann sich daher nicht nur auf ein bestimmtes Land beschränken, nicht einmal nur auf islamische Länder, denn sie ist die Fortsetzung der Revolution des Propheten“ (vgl. das Buch Charisma und Herrschaft von Berit Bliesemann de Guevara und Tatjana Reiber).

In den frühen Morgenstunden des 20. November 1979 begann dann die Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch einige Hundert islamistischer Aufständischer. Die Belagerer unter ihrem Anführer Juhaiman al-Utaibi nahmen eine große Zahl Pilger als Geiseln und forderten das Ende des saudischen Regimes, da es korrupt und gottlos sei. An seine Stelle sollte ein islamischer Staat treten, der alle Beziehungen zum Westen einstellen würde. Gleichzeitig forderten sie, die Frauen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, Musik, Radio und Fernsehen zu verbieten, ebenso Fußball, Zigaretten und Alkohol. Die Besetzung der Moschee wurde schließlich nach mehr als zwei Wochen mithilfe einer französischen Spezialeinheit blutig beendet. Als Reaktion vorbeugenden Gehorsams verschärfte das saudische Königshaus aus Furcht vor ähnlichen Terrorakten die Re-Islamisierung Saudi-Arabiens und den unverfrorenen Export des Wahhabismus. Die Forderungen der Moschee-Besetzer reüssierten in den folgenden Jahren zur politisch-kulturellen Blaupause, zum gesellschaftspolitischen Masterplan für besonders radikale Bewegungen wie die Taliban und den Islamischen Staat.

Ende Dezember 1979 marschierte die Rote Armee in Afghanistan ein, um das säkulare und kommunistische Regime der Demokratischen Volkspartei Afghanistans gegen den Aufstand der Mudschaheddin, finanziell unterstützt von den USA, zu stärken. Damit begann ein zehn Jahre währender Krieg, der viele Dschihadisten aus den arabischen Ländern nach Afghanistan zog, unter ihnen: Osama bin Laden, der dort 1993 al-Qaida gründete. Vor allem aber begann mit dem Krieg letztlich der Erfolg seiner Idee, den Dschihad, den Heiligen Krieg gegen die „Ungläubigen“, quasi geschäftsmäßig zu globalisieren und den Westen verstärkt ins Visier zu nehmen.

Viele Jahre war al-Qaida tatsächlich die „Basis“ für Dschihadisten weltweit, eine Avantgarde, entsprechend der Idee der „Vorhut“ Sayyid Qutbs, dem wichtigsten Theoretiker der ägyptischen Muslimbruderschaft. Doch nun wuchs sie in jahrzehntelanger Arbeit – auch ohne ihren Gründer – zum Global Player des militanten Islamismus. Osama bin Laden erkannte früh den Wert von Franchise-Unternehmen, weitgehend selbständigen Zellen, die die Philosophie des Unternehmens weitertragen und realisieren. Und er wusste, selbst wohlhabend und schon in seinen frühen Jahren ein rühriger Spendensammler für den heiligen Krieg im arabischen Raum, um die Vorzüge des Off-Shore-Systems aus Banken, Fonds und Firmen, das vor allem der Verschleierung von Finanzströmen dient. Sie bilden auch heute noch den nährenden Blutkreislauf des globalen Dschihad. Darin hat al-Qaida, entgegen dem Anschein, nicht entscheidend an Wirkungskraft eingebüßt. Es sind mit dem Islamischen Staat oder Boko Haram nur weitere Akteure auf dem Schlachtfeld erschienen, die, vor allem in Gestalt des IS, der Popularität al-Qaidas im Moment den Rang ablaufen. Der Islamische Staat hat mit seinem Coup 2014, weite Gebiete unter seine Kontrolle zu bekommen und ein Kalifat auszurufen, einfach als erster die nächste Eskalationsstufe erreicht. Zuvor waren schon durch den jahrelangen Dschihad und den darauf folgenden „Krieg gegen den Terror“ der USA (mit der Delegitimierung durch Abu Ghraib und Guantanamo) die in Jahrhunderten errungene Unterscheidung zwischen Zivilisten und Soldaten, die geregelten Garantien für Kriegsgefangene und den Neutralitätsstatus Dritter für obsolet erklärt und aufgehoben worden.

Über den öffentlichkeitswirksamen Kampf des IS sollte nicht vergessen werden, dass die Taliban auch immer noch in Afghanistan und Pakistan weite Gebiete kontrollieren und an Entschlossenheit und Brutalität, was man durch das Massaker in einer Schule in Peschawar vor zweieinhalb Jahren erfahren musste, nichts zurückgenommen haben. Ob in dem Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, zwischen Syrien und dem Irak, zwischen Nigeria, Niger, Kamerun und Tschad oder in der Sahara – die dschihadistischen Kräfte versuchen ein Kerngebiet durch politische und ethnische Säuberungen, sprich: Morde und Vertreibungen, in den Grenzräumen zu konsolidieren und an den Rändern mit einem Mix aus Terroranschlägen und Miliz-Vorstößen zu erweitern. Ihre Shock-and-Awe-Strategie trifft teilweise auf Staaten und Gesellschaften und ist auch dort am erfolgreichsten, wo in den ideologischen Grundfesten – religiöse Intoleranz und Überhöhung des Islam, Herrschaft der Scharia und politischer Autoritarismus – nur wenige Unterschiede zwischen Angreifern und Angegriffenen auszumachen sind. Die Zahl der Sympathisanten scheint selbst angesichts der schlimmsten Verbrechen nicht zu sinken. In Ländern Zentralasiens wie Usbekistan hat man mittlerweile auch erfolgreich neue Rekrutierungsregionen gefunden.

Charisma und Scharia

Wenn wir bislang etwas zu wissen glaubten in Sachen Terrorismus, dann soviel: Er braucht ein entfremdetes, dissoziiertes Individuum, eine wohlwollende Gemeinschaft sowie eine alle Taten legitimierende Ideologie, wie zum Beispiel Louise Richardson in ihrem Buch Was Terroristen wollen schon vor Jahren anschaulich beschrieb. Das ist nicht falsch, erklärt Zusammenhänge wie beispielsweise bei den Pariser Attentätern gegen Charlie Hebdo, die, nach Demütigungen und der Fermentierung ihres Schmerzes in wütendes Selbstmitleid, möglicherweise in Ghettos oder Gefängnissen radikalisiert wurden und Wut in Zorn verwandelten, bis er, wie Seneca es formulierte, „ein von der Seele gewolltes Laster“ wird und den Wunsch zu töten ausformt – und zwar in der von Islamisten und der wohlwollenden Gruppe vorgegebenen Richtung. Die Pariser Attentäter sind Verführte. Sie mordeten Menschen, die mit ihrem Leben nichts zu tun hatten, keine Schuld daran trugen – und doch glaubten sie es, sahen sie einen Zusammenhang, und wenn sie es nicht glaubten, so suchten sie Erlösung in einem Akt individueller Eschatologie. Wir stehen aber letztlich vor dem Rätsel, wie jemand Frieden finden kann, indem er anderen den Krieg erklärt.

Doch wenn wir genauer hinschauen, sehen wir etwas noch Verwirrenderes: Es gibt keinen musterhaften, leicht zu erkennenden Typus des Terroristen; offenkundig sind die Unterschiede zahlreicher als die Gemeinsamkeiten. Es gibt den Gedemütigten und den Soziopathen, den Kriminellen und den Lebemann, den Rebellen und den Unauffälligen, den Träumer und den Gelangweilten, den Privilegierten und den Armen, den Intellektuellen und den Blauäugigen.

Was sie eint, ist die allmähliche oder plötzliche Umkehr vom bisherigen Weg: Wer lange nichts glaubte, kann plötzlich ein glühender Gläubiger sein; wer lange nur das Ich kannte, kann mit einem Mal das Wir mit dem Schwert verteidigen; wer lange das Gesetz verachtete, kann unversehens eines über alle anderen stellen; wer lange das Leben liebte, kann von heute auf morgen den Kampf und den Tod verherrlichen. All dies ist nur möglich durch eine Verheißung auf ein besseres, rechtschaffendes Leben, eine Erneuerung des Individuums durch die Erneuerung des Glaubens.

Doch diese individuellen Peripetien sind weitgehend Probleme der westlichen Welt. Den meisten Zulauf erfährt der Dschihad global durch Erziehung zum Hass, durch jahrelange Indoktrination junger Menschen in sogenannten Koranschulen, durch Entführungen, Zwangsrekrutierungen in eroberten Gebieten und – schlichtweg durch Geld, nämlich einen guten Sold, der jede andere Verdienstmöglichkeit in traditionell armen oder aber ausgebeuteten oder vernachlässigten Regionen übertrifft. Denn der symmetrische Krieg der islamistischen Milizen hat ganz andere Anforderungen als der asymmetrische Krieg der islamistischen Terrorgruppen. Er benötigt vor allem sehr viel mehr Kämpfer, um das eroberte Gebiet halten und weiteres besetzen zu können.

So oder so, der Dschihadist benötigt Anleitung durch Anleitende. Die Geschichte des Islamismus kennt ein ganze Reihe charismatischer Führer: Chomeini und bin Laden gehören gewiss dazu, der Theologe Abu Bakr al-Baghdadi, Führer des IS, wahrscheinlich auch. Aber der Islamismus hätte nicht den Erfolg gehabt, wenn er nicht über ein Heer „kleiner“ Charismatiker, Prediger mit einem festen Weltbild und einer Botschaft, verfügte, die Empfangsbereite auf den Weg des strengen Glaubens führten und in der Rechtgläubigkeit, der Gottgefälligkeit sowie – mit den Worten des Koran und der Scharia – in der moralischen und politischen Festigkeit unterwiesen. Er besitzt durch seine Tradition und den missionarischen Eifer der Salafisten und des Wahhabismus eine starke Bewegung, die in der Lage war, eine sogenannte „latente charismatische Situation“, wie der Soziologe Rainer Lepsius das nannte, zu verstärken, denn sie traf auf eine Gemeinschaft, die durch die ökonomische und militärische Überlegenheit des Westens, dessen imperialistischen Anwandlungen und Kalter-Krieg-Ranküne, den Schock der Moderne sowie die Unfähigkeit der eigenen Herrscher demoralisiert, orientierungslos und von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt war. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts haben wir eine „manifeste charismatische Situation“, in der letzte Werte als endzeitlicher Kampf zwischen Gut und Böse, die Erneuerung durch den Glauben und ein dualistisches Weltbild gepredigt und forciert werden. Das ist die Stunde islamistischer Charismatiker, die zunächst keinen Staat, aber eine Botschaft haben, die sie an eine viel größere Gemeinschaft richten können: die Gläubigen der islamischen Welt: „Der Träger des Charisma“, so Max Weber in seiner Studie zu Wirtschaft und Gesellschaft, „ergreift die ihm angemessene Aufgabe und verlangt Gehorsam und Gefolgschaft kraft seiner Sendung.“

Weber sah in der charismatischen Herrschaft einen Imperativ zur Tat, zum ständigen Erfolg walten und gleichzeitig eine „Macht der Unwirtschaftlichkeit“, eine Abneigung gegen den „planvollen rationalen Geldgewinn“. Doch dass das Wohlergehen der Charismagläubigen eine Grundbedingung des Erfolgs sein muss – das haben die Islamisten im Unterschied zu anderen Charismatikern der Weltgeschichte begriffen. Der IS zum Beispiel achtet auf einen geordneten Staatsaufbau und eine adäquate ökonomische Basis. Ob diese auf Dauer tragfähig ist und nicht von den militärischen Kosten aufgefressen wird, darf bezweifelt werden. Max Weber war sich zudem sicher, dass eine genuin charismatische Herrschaft keine „formale Rechtsfindung“ kennt. Doch die charismatische Herrschaft der Islamisten kennt eine sogar gefestigte Rechtstradition, nämlich die Scharia, und löst so ihre Herrschaft von einer Rechtsetzung mit einem „regelgebundenen Mechanismus zur formalen Ermittlung des göttlichen Willens“; diese stark rationalisierte islamische Rechtspflege nimmt ja längst Anleihen bei der allerhöchsten, der absoluten charismatischen Macht: Gott. Wir dürfen annehmen, dass sich daraus möglicherweise eine besondere Kraft und Dauerhaftigkeit ergibt!

Universalismus vs. Universalismus

Ideologien müssen, um Fehldeutungen und Täuschungen vorzubeugen, mit ihrer eigenen Wahrheit konfrontiert werden. Diese Arbeit erledigen IS, Boko Haram, al-Qaida et al. mittlerweile selbst. Nachdem sich bis vor wenigen Jahren der Islamismus auch als soziale Bewegung darstellen konnte, die Unrecht durch Gerechtigkeitsideen zu rechtfertigen verstand, wird nun durch die Untaten gegen Mensch und Kultur immer deutlicher, dass sie eigentlich keine Rolle spielen. Das Konzept des Islamismus beruht auf einer Ordnungsvorstellung, dem Gottesstaat. Das ist nicht neu. Es war aber immer mehr in den Hintergrund getreten bzw. wegen Desinteresses von der westlichen Öffentlichkeit nicht hervorgeholt worden. Die Frage nach den Motiven der Attentäter, die nach jedem Terroranschlag brav und formal korrekt gestellt wurde, blieb in der Regel unbeantwortet oder im Wust von Ermittlungsergebnissen stecken. Und das ist heute immer noch so. Dabei trat allein schon in den Attacken von Paris und Kopenhagen ein Motivgehalt offen zutage: Antisemitismus und Antiliberalismus. Es gibt aber eine nicht gerade kleine Zahl von Kommentatoren, die den Dschihad immer noch allein als Abwehrkampf darstellen, also als einen Widerstand gegen eine Vielzahl von Zumutungen und Veränderungen, vor allem gegen die – längst brüchige bzw. geteilte – westliche Vorherrschaft durch amerikanisches Militär und eine hochbeschleunigte Präfix-Moderne aus Turbo-Kapitalismus, Super-Rationalismus, Hyper-Liberalismus usw. Selbstverständlich ist diese Motivlage nicht völlig von der Hand zu weisen. Bei den Vätern des Islamismus wie Sayyid Qutb – um nur einen zu nennen – war sie elementar. In den letzten 25 Jahren, vor allem durch die geschickte Rhetorik bin Ladens, galt die Aufmerksamkeit einseitig dem antiamerikanischen, antijüdischen, antikapitalistischen Impetus. Doch die Gräuel und unverhohlenen Verlautbarungen der neuen Generation von Dschihadisten konfrontieren uns nun unmissverständlich mit ihrer Wahrheit: der Idee einer „göttlichen“ Ordnung auf Erden, mit unbedingtem Gehorsam gegenüber einer bestimmten Lesart vermeintlich göttlicher Gebote, als Gegenentwurf zur liberalen, säkularen Demokratie, die den Menschen und seine Würde, seine Bedürfnisse, seine Rechte in den Mittelpunkt stellt.

Mehr noch: Deutlich wird auch der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, auf eine „absolute Idee“, die dem Konzept des globalen Gottesstaates innewohnt, wie es Chomeini ersann, oder als Reichsidee des Kalifats, wie sie al-Baghdadi proklamierte. Dieser Universalismus ist kompromisslos in seinem Anspruch, den Koran wörtlich auszulegen und mit der dekadenten Gott- und Sittenlosigkeit aufzuräumen. Nach dieser Lesart des Korans würde beispielsweise die 5. Koransure auch niemals mit dem 18. Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kompatibel sein (denn die Religionsunfreiheit bzw. -freiheit stehen hier gegeneinander).

Dieser Unverträglichkeit wird der Westen gerade nicht entgehen können, indem er den „eigenen“ Universalismus leugnet und seine Basis, die Vernunft, dekonstruiert. Ebenso die Identitäten, das Wissen, den Glauben. Dieses giftige Denken gehört auch zum Westen – und kommt ganz sicher nicht aus dem Weißen Haus. Seit den sechziger, siebziger Jahren wird sowohl der Universalismus der Menschenrechte als auch die amerikanische Kultur aus Coca-Cola und Hollywood vor allem in der westlichen Welt selbst in Frage gestellt bzw. attackiert und als Instrument der Globalisierung und der Unterwerfung identifiziert. Die französischen Poststrukturalisten wie Foucault und Derrida bezweifelten dezidiert die universalistische Basis der Menschenrechte, nämlich die Existenz einer objektiven, allgemeinen, neutralen Vernunft – selbstverständlich ohne die allgemeine Gültigkeit ihrer eigenen Vorstellungen, angeblich fußend auf einem Höchstmaß an Objektivität und Neutralität, in Zweifel zu ziehen. Aber wer schneidet sich schon selbst gerne mit diesem schärfsten Skalpell der Rationalität, dem Zweifel? Der Islamismus allerdings sieht dieses Instrument überall in den Händen der westlichen Philosophie und Sozialwissenschaften – und fürchtet es mehr als jeden Hollywood-Blockbuster und jede Mädchenschule. Schließlich stellt der Zweifel auch die Gültigkeit der Worte Gottes, wie sie vom Propheten überliefert wurden, in Zweifel. Er relativiert sie. Der menschlichen Vernunft, die immerhin nicht nur den normativen Gehalt eines alle Menschen glücklich machenden Universalismus in Zweifel ziehen kann, sondern gleichzeitig auch diesen Universalismus sucht, stellt der Islamismus die göttliche Vernunft gegenüber, die eine fehlerfreie, überzeitliche Hardware entworfen hat: den Islam. In der menschlichen Vernunft, dieser „Praxis des Begründens“, steckt nichtsdestotrotz auch die universalistische Hoffnung auf eine bessere Welt. Diese Vernunft aber bedarf nicht nur der Freiheit, sie schafft sie auch. Das macht sie letztlich überlegen. Wir täten gut daran, sie nicht zu verraten.