Die ARD zeigt nun doch die Dokumentation über Antisemitismus – eingebettet in ein Tribunal über die beiden Autoren. Ein skandalöser Vorgang auf Kosten des kritischen Journalismus.

Und sie senden ihn doch. Aber: Wenn am 21. Juni die Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt“ im Ersten über den Sender gehen wird, spielt das Thema des Films, der zeitgenössische Antisemitismus in Europa, nur noch eine Nebenrolle. In der Hauptsache wird es um die Arbeitsweise des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gehen. Und es steht jetzt schon fest, dass in dieser Debatte niemand gewinnen kann. Zwar ist man es gewöhnt, dass die Sender ihre fiktionalen oder dokumentarischen Werke von Talkshows begleiten. Man denke nur an das Trommelfeuer rund um den Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“, in dem das ZDF nicht weniger behauptete, als dass man die deutsche Geschichte neu bewerten müsse. Aber ein selbst bestelltes Werk einem öffentlichen Tribunal auszusetzen, in dem die politische und die fachliche Dimension, die zu trennen Aufgabe von Redaktionen wäre, munter durcheinandergebrüllt werden wird, das ist einmalig.

Nochmal zum Mitdenken eine Fassung dieses Vorgangs, die um jede politische Verschwörungstheorie und jede Debatte bereinigt ist – also so, wie Arte und WDR ihn vortragen. Ein Sender hat demnach redaktionelle Zweifel an einem Film, den er selbst beauftragt hat. Er sendet ihn dann trotzdem. Und im Anschluss verbreitet er die redaktionellen Zweifel an dem Film, den er bezahlt und eben gesendet hat, über denselben Sender. Das ist professionell betrachtet ein schlechter Witz, es ist strategisch ein Schuss ins eigene Knie, wenn man bedenkt, wie das öffentlich-rechtliche Modell unter Druck steht. Und es ist nicht zuletzt respekt- und verantwortungslos gegenüber der Arbeit und dem Ruf der beiden Autoren Sophie Hafner und Joachim Schroeder.

Im Ernst: Es kann doch nicht allgemeine Auffassung sein, es habe nur die eine Wahl gegeben, den Film entweder gar nicht zu zeigen oder aber in einer Rohfassung, die man feiern oder über die man herfallen kann. Diese unjournalistische Herangehensweise nährt all die Debatten über Zensur, Lügenpresse und Propagandismus, die freie Medien derzeit bedrohen. Arte und der WDR fügen dem kritischen Journalismus einen beispiellosen Schaden zu.

Kein Film ist sofort perfekt

Um das zu begreifen, muss man sich nur ein wenig mit redaktionellen Gepflogenheiten auseinandersetzen – und mit dem unbegreiflichen Mangel daran im konkreten Fall. Dass der Film in der vorliegenden Form Mängel hat, ist offensichtlich. Schon die Grafiken und der Tonschnitt bei der auf bild.de gezeigten Variante belegen, dass es sich nicht um eine endgültige Fassung handeln kann. Die in Teilen ironische Inszenierung der Recherchereise mit Knightrider-Musik und Schnittbildern schlafender Mitglieder des Teams etwa passt nicht zum Rest. Der Sprechertext ist an einigen Stellen holprig, einige Aussagen sind nicht ausreichend belegt und zwischendurch verliert sich die Dokumentation zu lange im Nahostkonflikt.

All diese und andere professionellen Kritikpunkte lassen sich leicht finden. Aber sie sind beim aktuellen Stand der Debatte längst irrelevant. Und zwar nicht, weil es nicht das erste Mal wäre, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein Film gesendet wird, der den Qualitätsstandards eben jenes öffentlich-rechtlichen Fernsehens nie und nimmer genügt – erinnert sei nur an die unfassbare Verschwörungstheorie von Gerhard Wisnewski über 9/11 oder das seltsame Porträt über den angeblich von den Zionisten gestützten Geert Wilders.

Trotz Schwächen im Detail ist „Auserwählt und ausgegrenzt“ ein sehenswerter Film mit vielen Passagen und Interviews, die vom alltäglichen Judenhass zeugen. Entscheidend ist etwas ganz anderes, das in der Debatte bisher unterging: In dem Moment, in dem einer Redaktion ein Beitrag vorgelegt wird, ist er so gut wie nie restlos sendefähig. Mit dieser Feststellung endet normalerweise kein Filmprojekt, sondern es beginnt ein ganz normaler redaktioneller Prozess.

Keine große Reportage in einem Magazin und erst recht keine auf 90 Minuten angelegte Dokumentation fürs Fernsehen ist perfekt, wenn sie zur Abnahme kommt. Fernsehsender und Magazine beschäftigen deshalb Redakteure. Deren professionelle Aufgabe ist es, Texte und Filme von angestellten oder freien Autoren so zu bearbeiten oder nachbearbeiten zu lassen, dass sie den Vorstellungen der Redaktion entsprechen. Das ist Alltag. Jeder freie Autor weiß, dass es mitunter eines zähen Ringens mit vorgesetzten Redakteuren wie einem pingeligen Dr. Deutsch bedarf, bis der eigene Beitrag endlich im Blatt steht oder im Fernsehen läuft.

Wegwerfen ist keine Option

Im Fall der Antisemitismus-Dokumentation wäre dies der normale Weg gewesen. Da es sich nicht um ein unverlangt eingesandtes Manuskript handelte, sondern um ein aufwändiges, von Gebührengeld in Auftrag gegebenes Projekt, ist es keine Option, das Ganze einfach wegzuwerfen, nur weil es roh ist. Vielmehr hätte jemand bei Arte oder beim WDR die Autoren normalerweise nochmal drei zusätzliche Tage in den Schnitt geschickt, sie auf Ungereimtheiten im Text hingewiesen oder hätte gesagt: „Verstärkt die saubere Definition von zeitgenössischem Antisemitismus, lasst bei Gaza fünf Minuten weg und fügt dafür noch die Beschneidungsdebatte in Deutschland oder ein paar Beispiele für aktuellen Antisemitismus in Skandinavien hinzu“ – das Traurige ist ja, dass man für letzteres genügend Dinge im Archiv gefunden hätte. Und dann wäre der Film irgendwann final abgenommen worden, man hätte ihn gesendet und hinterher über seine Thesen diskutiert.

In der anschwellenden Berichterstattung rund um die Doku ist seltsamerweise kein einziger offensichtlicher Verweis auf einen solchen Prozess zu erkennen gewesen, nur der vage Hinweis darauf, die Abnahme durch eine WDR-Redakteurin habe nicht den Standards entsprochen. Niemand, auch die Sender nicht, hat den Vorwurf erhoben, die Filmemacher hätten sich einer redaktionellen Überarbeitung verweigert. Umgekehrt haben die Autoren nirgends vorgetragen, dass jemand ihren Film bis zur Unkenntlichkeit umarbeiten wollte, so dass sie ihn zurückgezogen haben. Stattdessen hat Arte beschlossen, das ganze Projekt zu kippen. Wenn man bedenkt, welche Beispiele von Pogrom-ähnlichen, judenfeindlichen Ausschreitungen auf französischen Straßen erstmals so deutlich einem deutschen Publikum vor Augen geführt worden wären, dann ist diese Entscheidung politisch erklärbar – mit journalistischen Mängeln erklärbar ist sie nicht.

Arte und nun auch der WDR behaupten jedoch das Gegenteil. Und sie verschweigen in ihrer gesamten Kommunikation ihrem Publikum, das von den internen Abläufen in Redaktionen wenig weiß, dass „handwerkliche Mängel“, „nicht belegte Aussagen“ und selbst „Abweichungen vom ursprünglichen Auftrag“ nicht ungewöhnlich sind, sondern regelmäßig vorkommen. Wie könnte es auch anders sein? Solche Filme werden von Menschen gemacht, sie dauern Monate, sind ein handwerklich anspruchsvolles Produkt, in dem Unmengen von Recherchematerial, von Interviews, Bildern und Fakten sortiert und zusammengefügt werden müssen. Dabei kann es passieren, dass Bilder, die der Kameramann toll fand, ebenso rausfliegen wie eine Pointe, auf die der Autor besonders stolz war. Ganze Passagen werden mehrfach umgeschrieben oder ganz verworfen. So lange, bis alle damit leben können, die verantwortlich sind.

Genau diese interne und rein professionelle Auseinandersetzung mit dem Ziel, einen schon in der Rohfassung aufsehenerregenden Film journalistisch unangreifbar zu machen, hat es aber allem Anschein nach nicht gegeben. Stattdessen gab es Zeitverzug. Dann sollte „Auserwählt und ausgegrenzt“ klammheimlich verklappt werden. Und nachdem das nicht geklappt hat, tut die ARD nun so, als schaffe sie Transparenz – mit dem eindeutigen Unterton: Seht selbst, warum man den Film unmöglich so senden konnte. In der Pressemitteilung des WDR heißt es, man werde die beanstandeten „handwerklichen Mängel“ in der Diskussion berücksichtigen. Der Job des WDR wäre es aber, angebliche oder tatsächliche Mängel zu beheben, bevor ein Film über den Sender geht, statt sie hinterher zu debattieren. Verantwortungsloser, ja gehässiger kann man mit journalistischer Arbeit nicht verfahren. So geht man mit einem Film um, wenn man eine Begründung dafür sucht, warum man ihn nicht senden will – aber nicht, wenn man ihn eigentlich senden will, im Detail aber Bedenken hat.

Kein Aufstand, nirgends

Dieses Vorgehen müsste daher zu einem Aufstand all jener führen, denen etwas an kritischen Medien liegt, vom Deutschen Journalisten-Verband über die IG Medien und diverse Vereinigungen freier Journalisten bis in die Medienredaktionen insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Programmen. Doch von den Hütern des Journalismus hört man wenig und in Redaktionen von „Zapp“ bis Deutschlandfunk wurde bereits auf Angriffsmodus umgeschaltet – gegen die freien Kollegen Sophie Hafner und Joachim Schroeder, gegen BILD, für die eigenen Chefs.

Statt die Dokumentation nun endlich, nach all dem Wirbel, in Ruhe einer eigenen Schlussredaktion zu unterziehen und sie dann guten Gewissens zu senden, so wie viele andere Filme zuvor, hält der WDR seine Strategie also weiter durch. Er strahlt den Film offenbar in der unfertigen Fassung aus und distanziert sich vorsorglich von ihm, indem er eine anschließende Diskussionssendung ankündigt, in der zu Gericht gesessen werden wird – über den Film, wohlgemerkt, nicht über die Frage, ob Europa vielleicht ein Antisemitismusproblem hat. Diese Farce sagt viel aus über die Bereitschaft in Deutschland und Frankreich, sich ehrlich mit dem modernen Judenhass auseinanderzusetzen. Und sie spricht Bände über die Qualität des Qualitätsjournalismus im Jahr 2017.