Deutschland und Westeuropa waren die Interessen Russlands lange Zeit wichtiger als die Souveränität und Freiheit der mittel- und osteuropäischen Nachbarn. Zu einer echten Zeitenwende gehört, dies nun umfassend zu ändern.

Angespannt, würde ich sagen, sogar sehr angespannt – so war jüngst die Atmosphäre bei der Pressekonferenz von Kanzler Olaf Scholz mit den Regierungschefs der drei baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland. Scholz trug vor, dass Deutschland die baltischen Staaten im Falle eines russischen Angriffs unterstützen werde. Und doch änderte diese Erklärung wenig an den sehr ernsten Mienen der baltischen Politiker. Warum auch? Schließlich hat Scholz damit nur angekündigt, wozu der NATO-Staat Deutschland aufgrund des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags ohnehin verpflichtet ist: nämlich einem NATO-Mitglied so beizustehen, als wäre dessen angegriffenes Gebiet das des eigenen Landes. Er hatte also nur eine Selbstverständlichkeit verkündet, die man eigentlich nicht betonen muss, es sei denn, es gäbe begründete Zweifel an dieser eigentlich selbstverständlichen Haltung. 

Aber so läuft momentan die Kommunikation bzw. die Politik aus dem Kanzleramt: Sie erklärt Selbstverständliches mit großem Aplomb (jedenfalls im Scholzschen Maßstab), um vom Notwendigen schweigen zu können, nämlich der Ukraine gegen den russischen Aggressor mit schweren Waffen direkt zu helfen und nicht über einen „Ringtausch“ (ein Wort wie aus einer Wagner-Oper). Und so sät Deutschland die Saat des Zweifels an der eigenen Verlässlichkeit und politischen Weitsicht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Bundeswehr schon Kampftruppen im Baltikum stehen hat. Mögen sie leibhaftige Zeugnisse der Bündnistreue sein – verbale und tatkräftige Entschlossenheit beruhigt die Nerven. Aber da hat Deutschland nicht so viel zu bieten. Und das nicht erst seit heute.

GLAUBE AN EINE VORÜBERGEHENDE KRISE

Es gibt eine gewaltige Diskrepanz zwischen Deutschland und dem Baltikum: Während Deutschland, eine Wirtschaftsmacht mit 83 Millionen Einwohnern, in Bezug auf den russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine eine Verdruckstheit, ja fatale Lauheit in Wort und Tat an den Tag legt, lassen es die baltischen Staaten mit ihren nur 6,2 Millionen Einwohnen (in etwa die Einwohnerzahl Hessens) an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig. Sie haben die Ukraine nach dem Einmarsch russischer Truppen von Anfang an unterstützt, sich über die Pläne Putins nie Illusionen hingegeben und das auch so unverhohlen kommuniziert – während in Deutschland viel zu viele in Regierung und Gesellschaft noch glauben wollen, dass Europa nur in einer vorübergehenden Krise steckt, die man wie eine Magenverstimmung mit Kamillentee bekämpfen kann, und danach ist alles wieder beim Alten, und man kann wie gewohnt weiter konsumieren. Auch deshalb war die estnische Regierungschefin Kaja Kallas eine der ersten, die das nutzlose Telefonat von Scholz und Macron mit Putin kritisierte. Ihr Blick auf Putin ist wie die der anderen baltischen Führungspolitiker nicht getrübt von milliardenschweren Geschäftsbeziehungen, die wie Drogen wirken. Deutschland will immer noch nicht wahrhaben, dass es lange an der russischen Nadel hing und dass Putin der Pusher war. Dagegen leben die baltischen Staaten tagtäglich mit der imperialen russischen Bedrohung vor der Haustür – was, bei aller Sorge, anscheinend ihre Sinne schärfen und ihre Unerschrockenheit nicht kleinkriegen konnte.

Wenn die Balten ein gewisses Misstrauen gegenüber Deutschland an den Tag legen, dann liegt das nicht nur an Scholz und seiner Partei, sondern an dem wohlgenährten deutschen Nationalpazifismus, dem weit verbreiteten Verständnis für die russische Politik, der unbegreiflichen Kollaboration vieler SPD-Granden mit Putins Russland und nicht zuletzt an dem tiefsitzenden Antiamerikanismus, der Russlands Imperialismus mit Hinweis auf die amerikanische Macht lockerflockig zu relativieren weiß. Aber das ist noch nicht alles. 

UNSICHERE KANTONISTEN

Wahrscheinlich erinnert man sich auch an die deutsche Haltung vor dreißig Jahren, so lange ist das ja nicht her. Als damals Lettland, Litauen und Estland gegenüber der Sowjetunion auf Unabhängigkeit bestanden, erklärte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, das sei der „falsche Weg“, man solle sich gedulden. Und nach der Unabhängigkeit der Ukraine bot er an, sich bei dieser für eine Konföderation mit Russland einzusetzen. Denn nicht nur Putin hat das Auseinanderbrechen der Sowjetunion für eine Katastrophe gehalten; Helmut Kohl auch. Und mit der Haltung stand er nicht alleine da. Der damalige spanische Regierungschef Felipe Gonzales sah das genauso wie auch Frankreichs Präsident Francois Mitterand. Dieser glaubte, es sei im Interesse Frankreichs, dass es in Osteuropa eine Zentralgewalt geben müsse. Sich dessen erinnernd, nimmt es nicht wunder, wenn sich die Balten, Polen und andere osteuropäische Staaten angesichts mangelnder Waffenlieferungen an die attackierte Ukraine und sonderbarer deutsch-französischer Telefondiplomatie nur schwer von der Überzeugung abbringen lassen, dass einige westeuropäische Staaten unsichere Kantonisten sind. 

Denn da sitzt etwas tief, sehr tief. Da ist nicht nur das berechtigte Misstrauen Osteuropas gegenüber Russland und den Verbündeten in Westeuropa, sondern auch eine ganz spezielle Gleichgültigkeit Westeuropas gegenüber den osteuropäischen Ländern, die über eine schwach ausgebildete Loyalität hinausgeht. Als Beispiel sei hier noch an zwei andere Pressekonferenzen erinnert, die gut vierzig Jahre zurückliegen.

„DASS DIES NUN NOTWENDIG WAR…“

Sie hatten ihren Vorlauf darin, dass das kommunistische Regime in Polen im Sommer 1980 Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel beschloss und daraufhin unter den Arbeitern der Danziger Leninwerft Proteste begannen, die in der Gründung der ersten freien Gewerkschaft im Ostblock, der „Solidarnosc“, mündeten. Überraschend akzeptierte das Regime die Gewerkschaft als Gesprächspartner, was vor allem die DDR beunruhigte, die daraufhin die Grenzen zu Polen schloss. Im Herbst 1981 wurde dann der General Wojciech Jaruzelski mächtigster Mann Polens und verhängte am 13. Dezember das Kriegsrecht über das Land. Die freie Gewerkschaft Solidarnosc wurde verboten, über 10.000 Menschen landeten im Gefängnis, bei der Räumung einer Zeche gab es Tote. Die erste deutsche Reaktion ist eine „deutsch-deutsche“ (wie Marko Martin Jahre später passend schrieb), denn zu diesem Zeitpunkt weilt der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt zu einem Staatsbesuch in der DDR und stellt auf einer Pressekonferenz fest: „Herr Honecker ist genauso bestürzt gewesen wie ich, dass dies nun notwendig war.“ Sogleich sekundierte Theo Sommer in der ZEIT: Man müsse ihm, dem General, Gelingen wünschen. Und Egon Bahr erklärte im sozialdemokratischen Vorwärts, dass die Verhängung des Kriegsrechts kein Putsch gewesen sei, sondern „das äußerste Mittel des Staates im Rahmen seiner Allianz-Souveränität“. So überrascht es auch nicht, dass Deutschland als erstes westliches Land einen Vertreter der polnischen Militärregierung empfing. 

Das war in deutschen Öffentlichkeit zunächst kein Skandal, man bewegte sich einfach weiter in gewohnten Bahnen, doch einer störte schon wenige Tage nach der Verhängung des Kriegsrechts durch eine Pressekonferenz: Heinrich Böll. Nicht dass man damals nicht auch schon mittels Offener Briefe und Manifeste Aufmerksamkeit zu generieren suchte. Aber zu einer Pressekonferenz einzuladen, und alle Medien der – wenn auch damals noch kleinen – Bundeshauptstadt kommen – das schaffte nur der Literaturnobelpreisträger. Zusammen mit dem russischen Literaturwissenschaftler Efim Etkind und dem polnischen Historiker Juliusz Stroynowski äußerte er harte Kritik an der in der Bundesrepublik „zu beobachtenden Zurückhaltung gegenüber den Ereignissen in Polen“. Er kritisierte in seiner bekannt grimmigen Schärfe diese Zurückhaltung und die „intellektuellen Winkelzüge“ und „Turnübungen“, die dazu dienten, nicht das Richtige tun zu müssen. Und er forderte die Internationale Arbeiterorganisation (ILO) sowie den DGB auf, sich einzumischen und gegen die Inhaftierung Tausender Arbeiter zu protestieren. Bölls Resümee am Ende der Pressekonferenz: „Es wird noch zu wenig getan… Ich denke, dass man sich nicht klar darüber ist.“ Und Böll wusste, wovon er sprach, war er doch lange Zeit allein als Unterstützer der Oppositionellen im Ostblock, als ihr Sprachrohr im Westen, als erste Anlaufstelle auf ihrem Weg ins Exil. Wieso er das für sie war? Weil man ihm vertrauen konnte. Und weil die deutsche Linke (aber nicht nur sie) sich für Lateinamerika sehr wohl interessierte, aber eben nicht für die Länder und Menschen hinter dem Eisernen Vorhang.

EINE ECHTE ZEITENWENDE

Und mit einem Sprung durch den Zeittunnel landen wir im Heute. Wo noch immer zu wenig getan wird. Wo die beschriebene Haltung auch in der Gesellschaft immer noch virulent ist. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat den Bundeskanzler jüngst mit Recht wieder kritisiert und eine Entscheidung gefordert. Was bei Kanzler Schröder noch als Breitbeinigkeit rüber kam, zeigt sich jetzt bei Scholz als lähmender Spagat zwischen Russland und unseren osteuropäischen Nachbarstaaten, akut die Ukraine. Aber Deutschland muss sich entscheiden, die Zeit des Lavierens ist vorbei: Russland unter Putin kann kein Verbündeter für irgendwas sein. Seine Absichten und Interessen sind mit unseren nicht vereinbar. Die Zeitenwende in unserer Mentalität, bei unserer Zuverlässigkeit und im geopolitischen Denken muss schnell kommen. Sonst sieht es schlecht aus für Europa.