Am 4. Juni 1972 spielte der Jazzpianist Keith Jarrett in der Heidelberger Stadthalle sein weltweit erstes Solokonzert. Aus diesem Anlass eine kurze Würdigung dieses einzigartigen Musikers.

Große Künstler sind wie Familienangehörige: sie begleiten einen ein Leben lang. Auch wenn sie nicht die umgänglichsten Menschen sein mögen, so stelle ich mir doch manchmal vor, sie zum Essen zu Gast zu haben – und dann freue ich mich über Philip Roth, Cassandra Wilson, Ian McEwan, Stevie Wonder, James Turrell, J.J. Cale, Cecilia Bartoli, Woody Allen, Richard Ford, Stanley Kubrick, Lee Konitz, Chan Marshall, Abbey Lincoln, Arvo Pärt. Und selbst wenn einige nicht mehr auf dieser Welt weilen, so bleiben doch die Stühle in meiner Vorstellung nie leer, schließlich ist ihr Werk lebendig, und der Geist schwebt über der gedeckten Tafel. 

Manche Dichter können einem sagen, was man leidet. Manche Musiker aber können in einem Saiten anschlagen, die man nicht kennt, zu denen man keinen Zugang hat und nicht die Fähigkeiten, sie zu Lebzeiten selbst zum Klingen zu bringen. So ein Musiker sitzt in meiner Phantasie am Ende des Tisches, er nimmt für mich einen besonderen Platz ein – es ist Keith Jarrett.

DER KÖLNER MOMENT

Die allermeisten von uns Älteren haben, wenn sie sich für Musik im weitesten Sinne interessieren, den Namen Keith Jarrett das erste Mal Mitte der 1970-Jahre gehört. Ich war damals jung, eher ein Fan von Deep Purple. Doch dann stand da eines Tages dieses weiße Doppelalbum im Plattenladen, so weiß wie das White Album der Beatles, aber mit einem Foto des jungen Künstlers, gebeugt über einem Klavier. Was soll ich sagen? Es war der Beginn einer engen Beziehung. Es brauchte nur ein paar Töne – damals konnte man in einem Plattenladen die gewünschte Musik in einer Kabine, ähnlich einer Telephonzelle, anhören –, und der Kauf der Platte war besiegelt. Denn was da zu hören war, das war nicht nur außergewöhnlich in seinen Impressionen, seinem Herzschlagrhythmus, seiner Intensität, seiner Melanchomelodie, seiner Sensibilität, seiner Eleganz, seiner Poesie, seiner Frische und seiner Feierlichkeit, nämlich in dem Sinne, wie man das Leben mittels Kunst feiert, sondern das war auch außergewöhnlich in seinem innigen Zauber, der einen sofort in seinen Bann schlug. Und er hält an: Diese zwei Platten haben nichts von ihrem Zauber verloren, auch nicht nach Jahrzehnten. Ein Zeichen großer Kunst.

Dabei waren die Umstände dieser Aufnahme aus der Kölner Oper richtig schlecht: Jarrett bekam den falschen Konzertflügel hingestellt, der zudem keine richtigen hohen Töne mehr hervorbringen konnte, das rechte Pedal klemmte, einige Tasten wollten nicht mehr so recht, der Künstler war übermüdet. Es brauchte sehr viel Überredungskunst, bevor er sich bereit erklärte, dass Konzert doch noch zu geben. Und dann wurde daraus ein Triumph. Die Qualität des Albums und seine Umstände waren die richtigen Zutaten für einen kommerziellen Erfolg; aber er war größer, als alle Beteiligten hatten ahnen können, das Album wurde millionenfach verkauft. Eine große Karriere war begründet, die allerdings schon in den 1960er-Jahren in den großartigen Bands von Charles Lloyd und Miles Davis begonnen hatte. Dort lernte Jarrett die Traditionen und die großen Freiheiten des Jazz. Aber sie waren ihm nie genug: Bach, Mozart, Händel, Schostakowitsch, Gurdjieff, Pärt hat er sich ebenso erarbeitet und gespielt. Es stimmt, was der Musikjournalist und Gründer der Berliner Jazztage, Joachim E. Berendt, einmal über Keith Jarrett schrieb: nämlich dass er „nahezu alles, was je auf dem Klavier gemacht wurde, in seinen zehn Fingern und vor allem: im Kopf und im Herzen hat“. So arbeitete er unermüdlich an und spielte mit den Traditionen des Jazz, der Klassik, des Gospels, des Blues, ja des ganzen musikalischen Kanons. 

Damit traf er natürlich nicht immer den Geschmack der Jazzpuristen, die ihn wahrscheinlich aus dem Kreis des wahren, reinen Jazz und seiner Heiligen für alle Zeit verdammt hätten, wenn Jarrett neben seinem Solo-Projekt nicht auch noch das grandioseste aller Jazz-Trios mit den ebenbürtigen Partnern Gary Peacock (Bass) und Jack DeJohnette (Schlagzeug) gebildet hätte. Deren gemeinsames Spiel, die noch über die Könnerschaft des Bill Evans Trio hinausging, war in jeder Sekunde auf solch imposante Weise traumwandlerisch perfekt und gleichzeitig von solch innovativer Spannung, dass man manchmal glauben musste, es käme von einem anderen Stern. Und selbst wenn diese Combo auch große Säle füllte wie Jarrett als Solist, so verbreitete sie doch immer das Flair und die Aura aus der engen Atmosphäre der Jazzkeller, wenn sie die berühmten und berührenden Songs des American Songbooks und die Jazz-Klassiker spielte.

SCHÖPFUNG UND ERSCHÖPFUNG

Wenn Jarrett trotzdem nicht die adäquate Anerkennung von etlichen Kritikern und Journalisten bekam, so lag das an der hohen, manchmal abweisend wirkenden Konzentration und der geradezu obsessiven Energie, mit der er zu Werke ging und die Grenzen seines Metiers sprengte. Ein Jahr nach dem Köln Concert ging er auf Japan-Tournee und veröffentlichte Mitschnitte der fünf Solo-Konzerte auf zehn Langspielplatten, die Sun Bear Concerts: für die einen, weil sie auf die Quantität und nicht die Qualität schauten, selbstbeweihräuchender Gigantismus; für die anderen der Beweis, dass er ohne Spannungsverlust fünf herausragende Solo-Abende spielen konnte, changierend zwischen Jazz, Blues, Romantik und Atonalität – die ganze Bandbreite. Tatsächlich war Jarrett auf seinen Solo-Konzerten aber zuallererst: Jarrett. Mögliches Scheitern eingeschlossen. Er gründete sein Spiel auf dem immer neuen Wagnis aus Introspektion, Virtuosität, Kreativität, einer schier unerschöpflichen Inspiration und Spiellust (wie man hier sehr schön verfolgen kann). Dies alles ist bei Jarrett nicht einfach nur Könnerschaft, also herausragende Technik, sondern Körper und Psyche, ja sogar dem Konzertflügel im Spiel mit Leibeskraft abgerungen. Er wechselt in seinen Linien von horizontal zu vertikal und zurück, errichtet Klangkathedralen und nimmt uns mit auf beglückende Reisen zum Horizont. Das schafft eine Weite, Tiefe und Zeitlosigkeit, die ihresgleichen sucht. 

Aber solch ein prometheischer Schöpfungsakt ist immer den existentiellen Quellen abgedungen. Zeitlebens litt Jarrett an starken Rückenschmerzen, brauchte auf vielen Tourneen einen eigenen Physiotherapeuten. Im Jahre 1996, nach einer Tournee mit seinem Trio und vier grandiosen Solokonzerten in Italien, erkrankte er an ME/CFS. Es kommt fast einem Wunder gleich, dass er nach drei Jahren diese sehr schwere Erschöpfungserkrankung überwinden und langsam, aber beständig als Musiker wieder Fuß fassen konnte. 

Vor fünfzig Jahren, am 4. Juni 1972, gab Keith Jarrett in Heidelberg das erste einer sehr langen Reihe von Solokonzerten. Es werden keine weiteren folgen. Seit einem Schlaganfall ist ein Arm gelähmt, Spielen unmöglich. Was uns bleibt, das sind die zahlreichen verfügbaren Aufnahmen, um die Schönheit seines Spiels zu genießen, seine große Kunst.

Wer das Werk von Keith Jarrett bislang nicht kennt, aber kennenlernen möchte, dem sind zum Einstieg folgende Solo-Alben beim Münchner Label ECM empfohlen: The Köln Concert, Paris Concert, The Carnegie Hall Concert. Trio-Aufnahmen: Standards Live, The Cure, Tokyo 96. Etwas unterbewertet, aber sehr zu empfehlen sind die beiden CDs mit dem Bassisten Charlie Haden.