1984 dürfte das Buch sein, das am meisten zitiert und am wenigsten gelesen wurde. Deswegen wird es auch fast immer zum falschen Zeitpunkt als „Warnung“ in Debatten eingeworfen.

Es ist zum Beispiel für Verhältnisse wie in 1984 vollkommen egal, ob jeder Marktplatz und jede ÖPNV-Haltestelle kameraüberwacht ist. 1984 zielt auf die Privatsphäre des Menschen und dessen Auslöschung, die mit der Vernichtung von Freundschaft, Intimität und Partnerschaft einhergeht. Zurück bleibt eine Menschenhülle, die nur noch reagiert, weil agieren (denken und handeln) ein permanentes Risiko für das eigene Überleben wäre. Diesem Ziel kommt man auch mit eine Milliarden Kameras auf öffentlichen Plätzen nicht näher, wohl aber durch die Zustimmung zu totalitären Parolen wie „das Private ist politisch“.

Nun wird das Buch wieder viel zitiert. Aber nicht, weil mit Trump der erste lügende Politiker ins Weiße Haus eingezogen wäre – Lügen gehörte immer zur Politik –  sondern weil er als erster nur noch ein ausschließlich taktisches Verhältnis dazu hat. Lügen ist nicht mehr grundsätzlich falsch und nur als letztes Mittel eine Option, sondern ist jederzeit eine Option unter anderen. Nicht besser und nicht schlechter als die Alternativen.

In 1984 gibt es eine Schlüsselszene, in welcher der Protagonist gebrochen werden soll. Er soll zustimmen, dass das Ergebnis von 2+2 = 5 ist. Im Grunde ist das die entscheidende Passage im Buch. Wenn man so weit ist zu akzeptieren, dass 2+2 nicht mehr 4 ist, sondern 5 (also Ansichtssache), ist diese Ansichtssache eben mit jedem politischen oder religiösen Fanatismus auffüllbar. Wenn 2+2 nicht 4 ist, gibt es auch keine Menschenrechte mehr, weil diese auf einer bestimmten Idee aufbauen, die wir teilen. Das ganze humanistische Wertesystem löst sich auf, wenn man als Ergebnis von 2+2 alles toleriert.

Die Auflösung von Tatsachen

Wobei 1984 für das Zeitalter der alternativen Fakten trotzdem wenige Lehren bereithält. George Orwell war in seiner Dystopie schlicht zu optimistisch. Er ging davon aus, dass es immerhin noch Grundsätze gibt, über die Einigkeit herrscht und der Kampf sich darum dreht, die Deutungshoheit über diese Grundsätze zu erringen.  Schließlich stellt in 1984 niemand in Frage, dass es 2+2 gibt. Darauf kann man sich selbst in dieser Gesellschaft noch einigen. Alternative Fakten leugnen leugnen genau das. Deswegen sind es ja alternative Fakten.

Was die einen als 2+2 bezeichnen, ist für anderen 4+9 oder 7+3 oder Pferd+Seufz oder auch einfach xxyf+75u5hh. Alternative Fakten verweigern sich dem Austausch von Argumenten auf Grundlage von 2+2.  Befürworter und Gegner von Abtreibungen haben beispielsweise diese Grundlage, dass sie beide die ethischen Probleme sehen, die bei einem solchen Thema zwangsläufig bestehen. Wer aber keinen ethischen Graubereich erkennen kann, ist für die aufgeklärte Debattenkultur nicht zugänglich und schottet sich gegen diese mit Alternativen Fakten ab. 2+2 ist, was ihm ins Weltbild passt und fertig.

Die Realität hat gezeigt, dass sie konsequentere Dystopien schreiben kann als George Orwell. Sein 1984 ist ein Plädoyer dafür, dass die Privatsphäre des Menschen das höchste Gut ist, da das Individuum ohne sie ein Gefangener in seiner eigenen Wohnung ist, der erst den Kontakt zu anderen Menschen verliert und schließlich den Verstand.