Ganz Germanien ist von Nostalgikern und Neoliberalen besetzt. Ganz Germanien? Nein. Ein von progressiven Menschen bevölkerter Bezirk hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Ihr Anführer: Florian Schmidt

Der Jahreswechsel bietet wie üblich Gelegenheit zu einem kritischen Jahresrückblick, gepaart mit guten Vorsätzen für das neue Jahr: Weniger Alkohol, mehr Bewegung, den persönlichen CO2-Ausstoß unter Kontrolle bringen. Wer klug ist, legt die Messlatte nicht zu hoch, um bei der ersten vorsichtigen Revision nach zwei Wochen nicht vor sich selbst als der komplette Versager dazustehen.

Nicht so der Berliner Baustadtrat Florian Schmidt, zuständig für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Sein Jahresrückblick, veröffentlicht auf Facebook, liest sich wie die Neujahrsbotschaft eines Weltenlenkers, nicht wie der Sachstandsbericht eines Behördenleiters knapp über der Dezernentenebene:

„Seit 2010 breitet sich eine populistische Wut und Machtnahme global aus, die bis in die Kieze Berlins reicht, bis nach Friedrichshain-Kreuzberg. Dabei finden wir in Deutschland, anders als z.B. in Frankreich, die Wut der Nostalgiker der geschlossenen Gesellschaft im Verbund mit den Verteidigern eines überholten Neoliberalismus der Marktgläubigkeit.“

Eine Einleitung wie aus dem berühmten französischen Comic von Uderzo und Goscinny: Ganz Germanien ist von Nostalgikern und Neoliberalen besetzt. Ganz Germanien? Nein. Ein von progressiven Menschen bevölkerter Bezirk hört nicht auf, den Eindringlingen Widerstand zu leisten. Denn: „Progressive Politik stößt auf Widerstand. Wie sollte es anders sein?“ Auf der einen Seite Rot-Rot-Grün, auf der anderen die „mittig-konservativ-liberalen Kritiker“ der Koalition, die „mit afd-typischer Wutbürgerei“ Shit-Stürme gegen den Bezirk zu den Themen „Immobilien und Verkehr“ entfachen.

Mythenfigur aus der Ursuppe des Widerstands

Inmitten der imaginierten Twittergewitter steht Schmidt wie eine Mythenfigur aus der bretonischen Ursuppe des Widerstands: Asterix in Kreuzberg, der mit einer Gruppe von Gleichgesinnten täglich Abenteuer zwischen Klarsichthülle, Diagonalsperre und Begegnungszone bestehen muss. Seine Feinde: Falschparker, Vermieter und uneinsichtige Journalisten, die das große Werk veräppeln. Seine Waffen: Signalfarbe und – nun ja – Hinkelsteine! Letztere fanden bundesweit Beachtung, als er mit ihnen den arglosen Bergmann-Kiez mit seinen beschaulichen Gründerzeitbauten in eine Art nacheiszeitliche Endmoräne verwandelte – mit tonnenschweren Findlingen als Bollwerk gegen den motorisierten Individualverkehr. Dazwischen kryptische Fahrbahnmarkierungen, die mal als grüne Punkte, mal als Piktogramme wie Botschaften an Außerirdische anmuteten. Doch selbst Kritik weiß der Führer des gallischen Dorfes als Erfolg umzumünzen: „Das Aufstellen von Findlingen gegen Falschparker*innen, hat es in den Jahresrückblick 2019 (siehe Foto) und sogar in den Jahresausblick 2020 des Tagesspiegel gebracht und wurde zum Diskurs-Fetisch mit bundesweiter Reichweite (siehe Foto).“ Da spricht jemand, der um seine Rolle als Erlöser weiß und auch noch die Klosprüche in einer Kreuzberger Kiezkneipe auf versteckte Analysen seiner großen Taten scannt.

Manchmal überfällt den tapferen Krieger Resignation angesichts der Übermacht des Gegners und er hat Verständnis für Robert Habecks Entscheidung, sich aus den sozialen Medien abzumelden – „Es ist sehr belastend welcher Hass einem entgegen schlägt.“ Aber dann erwacht in ihm erneut der Wille, Führungskraft zu zeigen:

„Ich glaube, dass wir Twitter-Debatten als Seismografen nutzen sollten. Hilfreich wäre eine Adhoc-Analyse (gibt es ein Tool?) von Shitstorms, dann würde dem ein oder der anderen vielleicht auffallen, welche Geister er weckt bzw. im Bunde führt. In 2020 werde ich eine Methode dazu entwickeln.“

Vermutlich zwischen zwei Terminen, bei denen sich Schmidt um Belange seines Kiezes kümmern muss: um entwürdigende Gespräche mit Investoren, Sanierung von Schulen oder den langwierigen Streit um die Kommunalisierung von privatem Wohnungsbesitz.

Kreuzberger Zaubertrank

Hin und wieder streut Asterix ein paar selbstkritische Betrachtungen in seinen Jahresrückblick ein: „Frühzeitiger kommunizieren und bessere Prozessteuerung hätten geholfen tendenziell Wohlgesonnene für Projekte zu gewinnen und technische Fehler, die Auslöser von Unmut waren, hätten verhindert werden können.“ Aber ein Fehlereingeständnis ist das selbstverständlich nicht:

„Meine politische Lehre: Wer progressive Politik radikal umsetzt erntet Sturm. Doch dieser Sturm kann den Projekten, wie auch dem Gesamtvorhaben durchaus nützen. Denn er ist das Signal, dass sich etwas ändert und er zeigt auf wo die Widerstände liegen. Dieses Feedback habe ich von vielen Menschen erhalten, nicht selten auf der Straße, und nicht selten ausserhalb von Friedrichshain-Kreuzberg.“

Wie hält der Mann diesen Kampf aus? Das fragen sich viele – nicht selten auf der Straße und nicht selten auch außerhalb von Friedrichshain-Kreuzberg. Die Antwort lautet: Es ist ein Zaubertrank! Das Rezept wird nicht verraten!