Der Mob von Berlin
Wer sich bei den Demonstranten umhört, die sich als „Demokraten“ und „Freiheitskämpfer“ sehen, stößt in den allermeisten Fällen auf rechtsradikales Geschwurbel.
Ich habe zwölf Stunden auf der Demo gegen Corona-Maßnahmen am Samstag in Berlin verbracht. Davor war ich als Reporter für BILD und B.Z. auf etwa sechs ähnlichen Demonstrationen. Ich habe mich bemüht, mit vielen Teilnehmern zu sprechen.
Persönlich finde ich, auch wenn ich das anders sehe, die Meinung legitim, zu sagen: Diese Maßnahmen gegen das Virus seien übertrieben. Der wirtschaftliche Schaden sei zu groß. Man habe Angst um das Geschäft, Angst darum, wie das mit den Kindergärten und den Schulen weitergeht. Man sei der Meinung, die deutsche Regierung und die Wissenschaftler, auf deren Einschätzungen die Maßnahmen beruhen, irren gewaltig wie die Regierungen und Wissenschaftler von wohl über 150 Ländern unterschiedlichster Systeme, die ähnliche Maßnahmen ergriffen haben.
Das ist eine Meinung. Was aber in etwa 19 von 20 Fällen hervorquoll, wenn ich die besorgten Bürger ein wenig weiter befragte, was sie glauben, weshalb diese Maßnahmen ergriffen wurden, ist gefährliches, unwissenschaftliches, verschwörungsmythisches Geschwurbel, das oft ins Rechtsradikale abdriftet. Die „Rothschilds“ würden in Gestalt der „Pharmalobby“ und der „Bankenlobby“ hinter einer gewaltigen Desinformationskampagne stecken, um „den Eliten“ – obwohl ja die Wirtschaft einschließlich der Reichen tatsächlich extrem unter den Maßnahmen leidet – Profit zu verschaffen. Das ist eine bekannte antisemitische Erzählung.
Weiteres Geschwurbel: Microsoft-Gründer Bill Gates, der einen großen Teil seines Vermögens für seine Stiftung aufgewendet hat, wolle 80 Prozent der Menschheit mit Impfungen töten. Die „Rockefellers“ hätten schon im Oktober in New York 2019 die Pandemie geplant. US-Präsident Trump, den sie als Heilsbringer sehen, würde Kinder und Frauen aus Tunneln unter New York befreien. Belege dafür haben sie nicht. Man solle aber Fragen stellen und „im Internet“ nachlesen, sagen sie stets.
Diktatoren als Lichtgestalten
Was diese selbsternannten „demokratischen Freiheitskämpfer“ dann meiner Meinung nach komplett unglaubwürdig macht, ist, dass sie oft im gleichen Atemzug ausgewiesene Antidemokraten wie den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko als Lichtgestalten betrachten – offenbar wirkt da die aggressive Propaganda Russlands in sozialen Netzwerken. Am Samstag fielen immer wieder Sätze wie: „Lukaschenko hat geleakt, dass die europäischen Staaten von der Weltregierung erpresst werden.“
Die Redner am Samstag auf einer Bühne am Großen Stern hetzten größtenteils. Die „Mächtigen“ um „Maskenmerkel“ sollten aufpassen, dass sie nicht ihre Köpfe verlieren wie Marie Antoinette während der Französischen Revolution. Die „Hochfinanz und die Bilderberger“ müssten abdanken, die Zeit sei „Reif für ein neues System“. Sätze, die darauf teils folgten, dass man für den „Frieden“ und die „Liebe“ sei, klangen dann wie ein Hohn. Ein Oberstleutnant a.D. sagte, man solle sich lieber erschießen lassen, als „zwangsimpfen“.
Am skurrilsten war wohl der Auftritt eines Nachfahren des großen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Robert Kennedy Jr., eine Gallionsfigur der Verschwörungsmythiker, erzählte mit brüchiger Stimme, dass Bill Gates die Menschheit versklaven wolle, dass „Dr. Fauci“ die Pandemie mit anderen seit Jahrzehnten geplant habe. Das einzige Bollwerk, das Bill Gates noch an der Versklavung hindern würde, sei genau diese Demonstration in Berlin.
Polizisten, die vor dem Reichstag einen Flitzer tackelten, der über die abgesperrte Wiese davor gerannt war, wurden von Reichsflaggen schwenkenden Männern als „Volksverräter“ beschimpft und mit Sätzen wie „wir kriegen euch alle!“ und „wir hängen euch auf“ bedroht. Es waren genau die Polizisten, die den rechtsradikalen Mob zuvor daran gehindert hatten, das Reichstagsgebäude zu stürmen.
Die Einschätzung des Verfassungsschutzes zuvor, die Demos seien NICHT von rechtsradikalen Kräften dominiert, kann ich nicht nachvollziehen.