Für sie ist 1968 ein Jahr des Aufbruchs. Sie ist jung, Schauspielerin und lebt an der Seite eines berühmten Filmregisseurs. Doch für ihn verläuft das Jahr ganz anders. Anne Wiazemsky hat es in ihrem biographischen Roman aufgeschrieben.

Gemeinhin bringen wir das Jubiläumsjahr 1968 mit Politik in Verbindung, mit leninistischen Thesen und ho-ho-holprigen Parolen. Dann waren da noch ein paar nackte Provokationen und große Mengen geiler Musik. Aber letztlich war `68 natürlich ein Gefühl. Hans Magnus Enzensberger hat es immer gewusst: „Alles wird anders sein. Ein wunderbares Gefühl. Ich erinnere mich.“

Über Gefühle im Epochenjahr 1968 geht es in Anne Wiazemskys Erinnerungsbuch Paris, Mai ´68. Die Autorin – sie starb im vergangenen Jahr – lebte damals an der Seite von Jean Luc Godard im Quartier Latin, also mitten im Herz der Pariser Unruhen. Wer aber nun glaubt, man würde viel über die politischen Ziele und die Kämpfe erfahren, der sieht sich getäuscht. Wiazemskys Buch ist ein geradezu unpolitisches Buch, sie hat für die Motive der protestierenden Studenten und Arbeiter kein großes Interesse. Ihr Zugang zur Welt ist in erster Linie sinnlich und nicht intellektuell. Die wortreichen Bekundungen der Revolutionäre empfindet sie als Phrasendrescherei, die Krawalle und Besetzungen angetrieben von der Lust am bloßen Mitmachen und der Destruktion. Dabei gibt es ja glaubhafte Forderungen nach besseren Studienbedingungen, und sie verehrt „Danny le Rouge“ für seinen Charme und seine Wortgewandtheit. Wiazemsky ist zwanzig und will sich die Welt der Kunst erschließen; sie erhofft sich eine Karriere als Schauspielerin und ein aufregendes Leben an der Seite des berühmten Regisseurs. Aber das bietet ihr Godard auf eine andere Weise als erhofft. Er will keine Demonstration an der Seite der Studenten verpassen. Er sucht die Kollektive, die Transparente und Barrikaden. Der Kampf ist sein neues Elixier. Doch er muss auch immer wieder schnell erkennen, dass er mit siebenunddreißig schon zu alt ist für die Revolution. Er fühlt sich gehandicapt durch seine Brille und ist dem Tränengas nicht gewappnet. Da trifft es sich gut, dass die Wohnung als Zuflucht immer direkt um die Ecke liegt. Anne Wiazemsky machen die Auseinandersetzungen einfach nur Angst. Außerdem fehlt ihr der Ernst für das historische Momentum: Als die Busse und Bahnen nicht mehr fahren, schnallt sie sich einfach Rollschuhe unter und gleitet so durch das maiblühende, von Scherben glänzende Paris.

KAMPF ODER KUNST

Wenn das Buch auch als bloße subjektive und ein wenig naive Beschreibung der Unruhen in jenen Tagen im Mai `68 beginnt, so gewinnt es doch unwillkürlich an Spannung als Protokoll eines Konflikts, in den Godard in den zwölf Monaten gerät, die von Wiazemsky beschrieben werden. Godard ist unentwegt schlecht gelaunt, er erweist sich als ein ausgesprochen eifersüchtiger Miesepeter, der nur mit Not seinen inneren Zwist verbergen kann. Er dürfte sich in jenen Wochen – so liest sich das Buch, ohne es unmittelbar zum Ausdruck zu bringen – klar geworden sein, dass er am Scheitelpunkt seiner Karriere angekommen war. Die äußeren Unruhen verstärken seine inneren Zweifel, die von nachlassender Kreativität herrühren. Seine größten Erfolge – das konnte er noch nicht wissen, allerhöchstens ahnen – liegen hinter ihm: Außer Atem, Die Verachtung,Lemmy Caution gegen Alpha 60, Die Chinesin, Weekend. Er hatte mit der Nouvelle Vague Filmgeschichte geschrieben – ganz ohne `68. Nun muss er sich entscheiden: Kunst oder Kampf. Immer wieder proklamiert er, der Kampf müsse weitergehen, während die künstlerischen Projekte immer skurriler werden und zusehends scheitern. Er klammert sich an ein Kollektiv, das aus zwei Personen besteht; aber Hauptsache „Kollektiv“.

Die Entfremdung von seinen kreativen Quellen geht einher mit der Entfremdung von seiner Frau, der Autorin. Ein Beispiel: Er will zu den Filmfestspielen nach Cannes – wie auch zufällig in diesem Jahr 2018 nach langer, langer Zeit wieder –, nur um damals das Festival aufzumischen und platzen zu lassen. Seine Frau ist vorgereist und wartet bei Freunden in Südfrankreich auf ihn. Aber seine Anreise gestaltet sich schwierig, denn durch den Generalstreik, den er Tage zuvor begrüßt hat, gibt es nirgends mehr Benzin oder Tabakwaren – ein großer Verdruss. Als er endlich an der Cote d’Azur erschöpft angekommen ist, trifft er seine Frau gut erholt und braungebrannt in einer großbürgerlichen Villa an. Er macht ihr Vorhaltungen, schilt sie eine Verräterin und lässt sich erst wieder beruhigen, als die Köchin des Hauses ihm ein ordentliches Mahl auf den Tisch stellt. Weiterer Quell des Verdrusses: das Festival wurde auch ohne ihn abgesagt.

Der Dokumentarfilm wird schließlich zu seinem neuen Metier: Die Lebenswirklichkeit von Arbeitern, die Diskussionen von Studenten – das will er festhalten. Seine Frau soll mitkommen, sie möchte nicht so recht, es ist ihr unbehaglich, aber er hat eine Idee: „Du sollst auch nichts sagen, du wirst zuhören, eine junge Bürgerliche, die sich politisch weiterbilden und ihre Weltsicht ändern möchte … so eine Art Candide.“

Am Ende der Geschichte eines aufregenden Jahres erweckt Godard nur noch Mitleid in ihr; es ist etwas zerbrochen, das sich nicht mehr kitten lässt. Und doch sollen zwei schöne, immer gültige Sätze die Rezension hier beenden, wenn sie auch selbst nur mehr Geschichte geworden sind in diesem ehrlichen und ungekünstelten Buch der Gefühle: „Nur nachts waren wir uns nahe. Die Freuden der Liebe ließen mich alles andere vergessen.“

 

Anne Wiazemsky: Paris, Mai ´68. Ein Erinnerungsroman. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018