Über den Erkenntnisgewinn von Auschwitz-Reisen und warum die Frage nach der Schuld auch weiterhin ein deutsches Thema bleibt. Wer Auschwitz abschaffen möchte, spielt nur jenen in die Hände, die ein Ende der „deutschen Schuldkultur“ insgesamt fordern. Auschwitz ist mehr als nur eine Kranzabwurfstelle!

Reisen nach Auschwitz oder in ein nähergelegenes Stammlager der Nazis gehören als didaktische Allzweckwaffe gegen Antisemitismus in den Lehrplan vieler Schulen und werden auch von Politikern wie Sawsan Chebli gerne ins Spiel gebracht, wenn es darum geht, den Schrecken von Auschwitz erfahrbar zu machen. Man kann sich über den Wert solcher Reisen streiten – in vielen Fällen werden sie von dem zu beschulenden Personenkreis als unliebsame Pflichtübung abgehakt, in Einzelfällen sogar als Gegenpropaganda benutzt. Als Beispiel sei hier der Fred-Leuchter-Report erwähnt oder der Film Beruf Neonazi von Winfried Bonengel, in dem der Hardcore-Aktivist Ewald Althans inmitten der Gedenkstätte in Auschwitz den Holocaust leugnet. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass viele Schüler nach dem Besuch eines Todeslagers einen anderen Blick auf die deutsche Geschichte erworben haben – und natürlich auf die Geschichte Israels, die mit der deutschen eng verknüft ist.

Berlin Tel Aviv – via Auschwitz

Nun hat Gideon Böss den Vorschlag gemacht, statt nach Auschwitz nach Tel Aviv zu fahren, was sicherlich eine tolle Idee ist, wenn einen nicht das „statt“ stören würde. Warum also nicht Auschwitz und (!) Tel Aviv? Und was soll bitte schön an dem Vorschlag von Sawsan Chebli „perfide“ sein, dass jeder Deutsche Auschwitz mal gesehen haben sollte.

Dazu muss man den Subtext entschlüsseln. Sawsan Chebli bezeichnet sich als „Palästinenserin“, was jedem, der sich mit der Geschichte Israels beschäftigt hat, als eine vor allem ideologisch überfrachtete Herkunftsbezeichnung geläufig sein sollte. Palästina hat als geographische und politische Entität außerhalb der Selbstwahrnehmung der Palästinenser nie existiert, die gleichnamige römische Provinz lassen wir mal außen vor. Wer sich also als „Palästinenser“ bezeichnet, tut dies meist in Abgrenzung zu Israel und oft unter Leugnung seines Existenzrechts. Richtig gelesen könnte die Aufforderung also folgendermaßen lauten: Liebe Frau Chebli, ehe Sie jedem Deutschen empfehlen, nach Auschwitz zu fahren, sollten Sie vielleicht selber mal nach Tel Aviv fahren, um vielleicht etwas gegen den aktuellen Antisemitismus aus dem arabisch-muslimischen Kulturraum zu tun. Eine Geste, die sicherlich einen hohen Symbolwert hätte, und Cheblis Auschwitz-Forderung mehr Glaubwürdigkeit verschaffen würde. Fairerweise sollte man dazu sagen, dass Sawsan Chebli in einem Interview mit der Welt auch die Muslime ermahnt hat, gegen den aktuellen Judenhass aufzustehen: „Der Kampf gegen Antisemitismus muss auch ihr Kampf sein.“

Mit Hitler in Tel Aviv unterschreiben

Nun geht es aber in dem Text von Gideon Böss nicht um eine Lex Chebli, sondern um eine allgemeingültige Betrachtung darüber, ob das Reiseziel Tel Aviv einen höheren Stellenwert genießen sollte als Auschwitz. Und da sind Zweifel durchaus angebracht. Nicht nur, dass es eine endlose Reihe von Besuchern gibt, die auch nach einem Besuch in Tel Aviv keinen großen Lerngewinn verzeichnen konnten – als Beispiel sei jener Musiker genannt, der auf Konzertreise in Israel eine Rechnung mit Adolf Hitler unterschrieb – es ist auch durchaus möglich, wie ich selber hier mal dargelegt habe, dass man ein „Freund Israels“ und trotzdem ein Antisemit sein kann. Die Existenz Israels mag vielen Rechten im Rahmen der Ideologie des „Ethnopluralismus“ als Bestätigung dafür erscheinen, dass Juden in keine andere Volksgemeinschaft gehören – und schon gar nicht in die deutsche.

Und damit sind wir beim Punkt: Es ist eine Tatsache, dass der moderne Antisemitismus etwa in Gestalt der Grusel-Muslime wie Erdogan den Holocaust als absoluten Referenzpunkt für alles Böse in der Welt instrumentalisiert und gegen die Juden selbst kehrt – auch unter Deutschen ist diese Umkehrung eine beliebte Spielart, um die Juden für Auschwitz büßen zu lassen. Doch gerade deshalb ist die Konfrontation mit dem Ort des Geschehens notwendig, wie überhaupt die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Wer Juden mit Nazis vergleicht, sie in eine Reihe mit SS-Tätern stellt, will seine eigene Schuld kleiner machen, will die deutsche Vergangenheit möglichst verschwinden lassen unter dem Berg der Vergehen, den die Israelis angeblich in den besetzten Gebieten errichtet haben. Auschwitz wird hier zu einer Chiffre, die man den Juden anheftet, damit sie nicht an den Christen kleben bleibt.

Auschwitz ist ein deutsches Drehbuch

Dagegen hilft nur ein Besuch. Kein Ausblenden. Denn keine Chiffre verschwindet, nur weil man den geographisch und historisch fest verorteten Bezugspunkt aus der Reiseplanung gestrichen hat. Sie muss auf ihren Ursprung zurückgeführt werden, damit sie erfahrbar bleibt: Auschwitz ist eine Geschichte aus Deutschland und wird es bleiben. In diesem Drehbuch fällt den Juden nur die Opferrolle zu. Dass diese darauf mittlerweile keine Lust mehr haben, sollte nicht Anlass sein, jenen recht zu geben, die wie Björn Höcke eine „Beendigung der deutschen Schuldkultur“ fordern. Denn genau das kommt am Ende dabei heraus: die klammheimliche Exkulpation der Täter. Und nebenbei bemerkt: Auch wenn es vielen jüngeren Juden egal sein mag, ob deutsche Schulklassen durch ehemalige Stamm- und Nebenlager streunen, den älteren – und das weiß ich aus persönlicher Erfahrung – ist diese Art der Konfrontation sehr wichtig.

Selbstverständlich gehört es zum Bildungsauftrag, Auschwitz nicht als historisch abgeschlossenes Kapitel aufzufassen, sondern mit dem aktuellen Antisemitismus auch aus dem Migrantenumfeld zu verknüpfen. Das ist Aufgabe der Bildungspolitiker und erfordert viel Einfühlungsvermögen. Und vielleicht, ja vielleicht schafft es auch Lust, nach Tel Aviv zu reisen – und sei es nur, um festzustellen, dass Israel keine reine Projektionsfläche für die deutsche Bewältigungsbranche ist.