Brücke statt Podest. Einige Gedanken zur Vermittlung von Erinnerung
Festrede zum Bundeskongress der DDR-Aufarbeitungs-Initiativen
Meine Damen und Herren,
es zählt zu den Usancen einer Rede, insbesondere einer Festrede, dass der oder die Vortragende sogleich zu Beginn mitteilt, welche Ehre es bedeute, hier im jeweiligen Rahmen sprechen dürfen. Das ist höflich und löblich, wenngleich mitunter nicht ohne eine gewisse Routine. Lassen Sie es mich deshalb gleich zu Beginn sagen: Ja, ich bin wirklich dankbar, heute hier bei Ihnen zu sein. Jede und jeder von Ihnen sorgt mit immenser Kraft und Leidenschaft dafür, dass die Geschichte der SED-Diktatur – und nicht zuletzt deren fatale Spätfolgen – nicht aus dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis entschwinden. Und diejenigen unter Ihnen, gewiss die meisten, die die DDR noch bewusst erlebt hatten, waren bereits zu jener Zeit widerständig gewesen.
Ich hätte deshalb viele von Ihnen gern schon damals gekannt; es hätte womöglich zusätzliche Kraft gegeben bei den harschen Vorladungen in Direktoren- und später Lehrmeisterzimmern ob meiner Nicht-Mitgliedschaft bei den Pionieren und der FDJ und der nachfolgenden Verweigerung der vormilitärischen Ausbildung, die dann zum Rausschmiss aus der Lehre führte.
Wie es im Kongresstitel heißt: „Wie prägt Herkunft Erinnerung und Aufarbeitung?“: Ich höre noch heute die Worte meines Vaters, als ich zum ersten Mal allein zur sogenannten „Abteilung Inneres des Rates des Kreises“ im sächsischen Rochlitz vorgeladen wurde, um mich zu rechtfertigen für meine Wehrdiensttotalverweigerung und den Antrag auf Ausreise aus der DDR, der bereits zuvor zusammen mit der Familie gestellt worden war, den ich als nunmehr 18-Jähriger nun jedoch auch persönlich zu verantworten hatte.
„Denk´ mal an all die anderen“, hatte mein Vater gesagt, „von denen wir aus dem Westfernsehen erfahren haben. Denn was die hier im Land gewagt haben und weiter wagen…“ Und es war kein pathetisches Mahnen gewesen, sondern ein fast schon sportlich-kompetitives Mutmachen. Aus seiner eigenen Gefängniszeit 1970-72 auf dem Chemnitzer Kaßberg, in Freiberg und im vogtländischem Plauen hatte Vater dazu noch allerlei nützliche Tipps – damit ich dann beim erwartbaren Auftauchen der Stasi-Leute im Rochlitzer Amtszimmer mich weder provozieren noch ins Bockshorn jagen ließ. „Erstens: Stell dir diese Typen in Unterhosen vor. Zweitens: Stell dir vor, dass Du irgendwann im Westen genau darüber sprechen wirst.“
Am 19. Mai vor genau 35 Jahren kamen wir dann schließlich in jenem Westen an, und ich stelle mir vor, dass mein letztes Jahr am Bodensee verstorbener Vater sich wohl ebenfalls gefreut hätte, Sie alle hier im Saal zu sehen und kennenlernen zu können.
Was ich von ihm gelernt habe, schon sehr frühzeitig: Ja, selbstverständlich gibt es so etwas wie einen „Erfahrungsvorsprung“. Um produktiv und hilfreich zu werden, dürfte sich dieser Vorsprung freilich nicht auf ein Podest stellen, sondern müsste stattdessen versuchen, Brücke zu sein. Je konkreter und alltagsnäher desto besser – die analytische Einordnung käme dann im zweiten Schritt.
Als Schriftsteller könnte ich wohl keine einzige Zeile schreiben, wenn ich nicht genau davon überzeugt wäre: Aus so präzis wie möglich erinnerten Ereignissen und Erlebnissen können Erfahrungen entstehen, die einordnen, vergleichen und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede offenbaren. Das ist keineswegs eine rein wissenschaftliche Kür, sondern versetzt uns in die Lage, mit anderen Menschen – nicht zuletzt mit denen aus einer jüngeren Generation – zu kommunizieren. Was nämlich weit mehr als eine Binsenwahrheit ist: Kein Austausch und keine Erfahrungsvermittlung ohne die feste Überzeugung, ohne die emotionale Grundsicherheit, dass Austausch und Erfahrungsvermittlung eben möglich sind – vielleicht nicht immer und überall, so aber doch viel öfters und bei viel mehr Menschen, als wir in zaghaften Stunden zu hoffen wagen.
Weshalb sage ich das? Weil das, was Wolf Biermann einst seinem Freund Peter Huchel dichtete, was ihn zu den unsterblichen Zeilen seiner „Ermutigung“ inspirierte (Sie kennen es ja: „Du, lass dich nicht verhärten/ in dieser harten Zeit/ Die allzu hart sind, brechen, / die allzu spitz sind, stechen/ (…)/ Du, lass dich nicht verbittern/ in dieser bitt´ren Zeit“ usw usf), weil das, was damals in den sechziger Jahren der Ulbricht-Zeit Peter Huchels Einsamkeit und Isolation im stasi-observierten brandenburgischen Wilhelmshorst war, ja vielleicht – wenn auch auf andere und gewiss behaglichere Weise – wiederkehren könnte. Denn kennen wir ihn nicht alle, den Sound der Entmutigung: Niemand hört uns zu, die Jugendlichen und jungen Leute von heute lesen nicht mehr und vermögen kaum noch, sich zu konzentrieren, die DDR und deren Repressions-Mechanismen sind für sie inzwischen nicht einmal mehr „böhmische Dörfer“ (da sie von dieser Redewendung ja ebenfalls noch nie gehört haben, all die stupiden Smartphone-Instagram-TikTok-Konsumenten), jedes Jahr wird die Erinnerung schwächer, time is not on our side… Und so ließ sich das kulturpessimistische Lamento endlos fortsetzen, könnte in den Sitzreihen ein kollektiv resigniertes Kopfnicken choreografieren – und würde gerade deshalb noch zusätzlich schwächen.
Dann schon lieber die reflektierte Strenge eines Joachim Fest: „Unter den Gefährdungen freiheitlicher Systeme steht das Empfinden der Ohnmacht obenan, und dessen Wortführer waren seit je die sichersten Beförderer jenes Menetekels, das sie von allen Wänden lasen. Etwas ganz anderes dagegen ist die `heilsame Furcht vor der Zukunft´. Der ehemalige polnische Bürgerrechtler Bronislaw Geremek hat unlängst bemerkt, dass die freiheitlichen Systeme, und schienen sie `noch so gefestigt und belastbar, immer gefährdet´ sein werden. Man kann noch einen Schritt weitergehen und einiges an der Vermutung finden, dass diese freiheitlichen Systeme ein Experiment wider die Wahrscheinlichkeit sind. Auch historisch haben sie häufig den Charakter von bloßen Zwischenspielen gehabt, kurzen erwartungsvollen Entr´actes, ehe die alten bösen Lieder wieder angestimmt und von Millionen mitgesungen wurden.“
Joachim Fest hatte diese Überlegungen „Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft“ übrigens bereits 1993 publiziert. 1993, als an eine Struktur der DDR-Aufarbeitung – deren Existenz ja all Ihnen hier im Saal zu verdanken ist – überhaupt noch nicht zu denken war. 1993, in denen die Wahlerfolge der damaligen PDS zu Recht die Befürchtung weckten, dass die SED-Erben, die einstigen Mitläufer und Täter, nun sogar im wiedervereinten Deutschland ihr Schönfärben der DDR konsens-fähig machen könnten. 1993, als von Belgrad aus der ehemalige kommunistische Genosse Milosevic und seine Spießgesellen die großserbischen Massenverbrechen ins Werk setzten, das westliche Europa wie paralysiert zuschaute, und nicht nur Genosse Gysi vor allem damit beschäftigt war, auf sogenannten „Friedensdemonstrationen“ vor einem militärischen Eingreifen des Westens zu warnen, da dieses ja nur zu einer „Eskalation der Gewalt“ führen könne. Und so ließ man Milosevic, Karadzic und all die anderen noch zwei Jahre lang weitermorden, ließ die Zivilisten von Sarajewo, von Goradze und Srebrenica schmählich in Stich…
1993, mein Damen und Herren! Und wenn Sie sich nun fragen, worin ausgerechnet in solch düsteren Erinnerungen das Ermutigende stecken solle – und was all diese Zickzack-Reflexionen mit dem diesjährigen Kongressthema zu tun haben – dann gestatten Sie mir, zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Erfahrungen sind vermittelbar.
Schon aus dem Grund, weil Unrecht und Unterdrückung – samt deren Leugnung – immer wieder in neuen Formen auftritt und Wege findet, um Menschen zu kujonieren, im schlimmsten Fall gar auszulöschen. An diesen Wegkreuzungen sollten wir – als Mindestes, was wir tun können – präsent sein, hör- und sichtbar als Chronisten und Berichterstatter. Das in Festreden (und leider auch in manchem Kopf, in mancher Selbst- oder Fremdwahrnehmung) allzu hurtig auftauchende Begriffspaar „Mahner und Warner“ möchte ich an dieser Stelle freilich eher meiden: Es ist zu weihevoll und zu abgehoben, erinnert fatal an Toga und Podest – und das wäre gewiss das letzte, was wir benötigen.
Jugend und ihre Erfahrungen (in Klammer: in der DDR). Was könnte spannender und gegenwarts-relevanter sein? Da gibt es diesen wunderschönen Vers des irischen Dichters William Butler Yeats: „Ich träum´ vom Antlitz das ich hatte, ehe die Welt begann.“ Was aber, wenn zu den Träumen auch real gewordene Albträume gehörten, wenn das Antlitz schon in ganz jungen Jahren mit der staatlich organisierten Zumutung konfrontiert gewesen war, zur Zustimmungs-Maske zu werden – und diejenigen, die sich zumindest passiv verweigerten, Zuflucht suchen mussten zum mürrischen Pokerface? Ein emotionaler Ballast, der sich – wir wir seit 1990 allzu gut wissen – auch in einer Demokratie nicht allzu leicht abschütteln lässt, umso mehr Demokratie, die hochkomplexe, lebendige und daher dauer-konfliktuöse, ja keineswegs die Vorstufe eines irdischen Paradieses ist (und dies, im Unterschied zur Diktatur, auch nie behauptet hat).
Jugend in der DDR zwischen Anpassung und Renitenz, Unterdrückung, Resignation und Aufbegehren – wobei vor allem die Zwischentöne, Farbabstufungen, die Handlungs- und Bewusstseinsübergänge einschließlich von Konsequenzen, aber auch Inkonsequenzen, das Spannendste sein könnten. Nicht zuletzt deshalb, weil sie uns an etwas ungemein Wichtiges erinnern: Selbst in einer Diktatur – und schon gar in der späten DDR der siebziger und achtziger Jahre – gab es unendlich viele Verhaltens-Optionen, und so beschrieb ein „Tja, da kannste nüscht machen“ deshalb eher den Status persönlicher Trägheit als das Potential des Handelns. Das gleiche gilt für die beliebte Entlastungsformel „Wir mussten ja“.
Dennoch an dieser Stelle ein entschiedenes Stop. Obwohl – oder gerade weil – hier in diesem Saal so viele versammelt sind, die anhand ihrer eigenen Biographie nachweisen können, dass man/frau eben keineswegs und immer entweder „musste“ oder „nüscht machen konnte“. Wohl wahr! Aber, versuchen wir es in Erinnerung zu behalten: Eine Wahrheit, die sich aufs Podest begibt (und wir alle wissen, das geht schneller als gedacht, auch im nachvollziehbaren Wunsch, mit der eigenen Stimme vernehmlich zu werden im empörenden Entlastungs-Gegrummel der allzu Vielen) gerät in Gefahr, steril zu werden und monologisch – und abschreckend womöglich just für jene Jüngeren, die doch eigentlich noch überaus erfahrungs-offen sind.
Erinnerungen, die mit Unterdrückung, mit Widerstand, Widerrede oder auch mit Angst und Wegducken verknüpft sind, begleiten uns ja durch die Zeiten, und was Jugendlichen einst in der DDR geschehen war – wogegen sie aufbegehrten oder auch nicht – ist noch immer spürbar in gegenwärtigen Verhaltensmustern. Das im Gespräch mit Jüngeren herauszuarbeiten, ohne paternalistisch zu moralisieren, wäre die bleibende Herausforderung, die große Kunst – die sich natürlich ihrerseits wiederum auf Kunst, auf Filme und Bücher beziehen kann. Da sogenannte „Einzelfälle“, subtil und emotional ergreifend dargestellt, doch so unendlich viel aussagen über das gesellschaftliche Geflecht, innerhalb dessen sie geschehen. Ein Kinofilm wie etwa „Das schweigende Klassenzimmer“, vor einigen Jahren herausgekommen, vermag jedenfalls die angstgeschwängerte Atmosphäre der frühen fünfziger Jahre ebenso präzis und beklemmend aufzurufen wie er – anhand einer wahren Geschichte – auch davon erzählt, das es selbst damals Möglichkeiten gab, sich Verrat und Kotau zu entziehen.
Nicht zu vergessen die im Jena der frühen siebziger Jahre entstandenen Prosastücke von Jürgen Fuchs. Hatte er in seinen bis heute auch stilistisch nicht veralteten „Gedächtnisprotokollen“ doch so ungeheuer eindringlich die diversen Zurichtungs-Riten des DDR-(Schul-)Alltags beschrieben und danach in den achtziger Jahren in Westberlin in seinen Romanen „Fassonschnitt“ und „Das Ende einer Feigheit“ auch die seelischen und physischen Gewalterfahrungen in der ostdeutschen Armee. Und wie aktuell die von Jürgen Fuchs nach Mauerfall gestellten Fragen: Wie und auf welche Weise wird in den DDR-geprägten Familien inzwischen über das vermeintlich „Vergangene“ gesprochen? Wie wird die Zeit in den Jungen Pionieren, bei der FDJ, in der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft DSF“, in der paramilitärischen „Gesellschaft für Sport und Technik GST“ oder bei den betrieblichen Kampftruppen erinnert, ganz zu schweigen von der Mitgliedschaft in der SED, in den gleichgeschalteten Blockparteien oder bei Polizei, Armee und Staatssicherheit? Und vor allem: welche damaligen Verhaltensmuster werden da vermutlich weitergegeben – im selektiven Erinnern, im verschämten oder aggressiven Verschweigen, im rechtfertigend geführten oder gänzlich verweigerten Generationengespräch – oder, stets aktuell, im verbitterten Schimpfen über „die da oben“?
Und all das lange vor dem gegenwärtigen Gerede von einer „DDR.2000“, in der „man“ sich angeblich nicht frei artikulieren könne. Wer seine Bücher heute wieder liest (die meisten seltsamerweise nur noch antiquarisch erhältlich) müsste deshalb gar nicht erst spekulieren, wie Jürgen Fuchs die heutigen Demagogen samt ihres Anhangs beschrieben hätte. Nämlich gewiss nicht von der Bühne folgenlos moralischer Empörung herab, sondern furchtlos aus der Nähe, in Augenhöhe. So wie er damals brüllende oder mit Unterordnung lockende Lehrer, Lehrmeister, Parteisekretäre, Stasi-Vernehmer und Politoffiziere beobachtet hatte – einschließlich der (Nicht-)Reaktionen seiner sächsischen Mitschüler, thüringischen Kommilitonen oder der „Spind-Kameraden“ aus der gesamten DDR. All diese Härte, der Sadismus der Machthaber und dazu die Strategien derer, die entweder versuchten, da ebenso mitzutun oder sich wegzuducken als vermeintlich völlig unschuldiger, resigniert abwinkender „kleiner Mann“. Und wenn man – und tatsächlich handelte es sich da vorrangig um eine triste Männerwelt – genug getrunken hatte und sich unter seinesgleichen wähnte, wurden dann eben auch antisemitische oder sogenannte „Polenwitze“ gerissen, ließ man „Adolf“ hochleben und fühlte sich dabei sogar wie Hauptdarsteller in einer Oppositions-Travestie.
Diese Menschen der Jahrgänge um 1950 sind größtenteils auch weiterhin unsere Zeitgenossen; inzwischen Anfang siebzig, haben sie Kinder, die ebenfalls noch die DDR-Realität erfahren hatten und dazu bereits erwachsene Enkel, womöglich gar Ur-Enkel. Die Bücher von Jürgen Fuchs, dessen Maxime „Sagen, was ist“ lautete, könnten deshalb auch noch im Jahr 2024 ungemütlich aktuelle Augenöffner sein.
Ich selbst habe bei Schulveranstaltungen, bei denen ich, von der eigenen DDR-Kindheit und Jugend ausgehend, immer auch auf die Texte anderer Bezug nehme, wieder und wieder erlebt, wie gerade Jürgen Fuchs´ ruhig insistierendes Sprechen und Schreiben auch heutige Jugendliche zu packen vermag, sie an eigene Gefährdungen erinnert – und oftmals auch an einen ganz neuen Blick provoziert auf die partiell schön gepinselten DDR-Bilder ihrer Eltern.
Oder jenes Gedicht von Utz Rachowski, einem weiteren Renitenten aus dem sächsischen Vogtland, der 1980 nach politischer Haft nach Westberlin abgeschoben worden war. Es trägt den Titel „Jugend“. Ich war unter ihnen/ schon der Fremde/ den Mitstudenten// Ist Ihr Vater Genosse?/ Fragte die Kommission/ bei der Aufnahmeprüfung// und hatte Zweifel/ An die Tafel geschickt/ rechnete ich ihnen// exakt vor was Stoff/ wurde an der Fakultät/ in Physik in zwei Jahren// Da nahmen sie mich// Abseits/ unter ihnen/ war ich schon der Fremde// jetzt tanzten sie/ wiegten sich/ schmiegten die Körper// meine Mitstudenten/ sonst so geradlinig/ hautnah der Macht// zu einem Lied von Wishful Thinking/ Hiroshima// Ich würde bald brennen/ der Wünsche wegen/ meiner Gedanken// Sie aber würden/ einst erzählen sagen/ es sei ihre Jugend gewesen
Poesie als Widerhaken. Und erneut als Brücke. Da gab es nämlich sogar eine Verbindung von den Südstaaten der USA in die DDR der siebziger Jahre, die ja viele von Ihnen noch selbst erlebt haben. Über seine verwunschene Kindheit unter Paternosterbäumen, vor den Fliegengittertüren und auf den Schaukelstühlen lädierter Veranden hatte der Nachbarsjunge von Harper Lee – Sie kennen vermutlich deren Roman „Wer die Nachtigall stört“ und die nicht minder berühmte Verfilmung mit Gregory Peck – einen Kurzroman geschrieben, der seinerseits ebenfalls Kultstatus erlangte. Der Name des Autors war Truman Capote, sein Buch trug den Titel „Die Grasharfe“, und darin finden sich zwei Sätze, die bei Ihnen ganz gewiss etwas zum Klingen bringen werden. Ich war elf, später wurde ich sechzehn. Verdienste erwarb ich mir keine, aber es waren die wunderbaren Jahre.
Und es sind, bis heute, eben „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze, der Truman Capotes Sätze in eine gänzlich andere Wirklichkeit übertragen hatte – weil er als Schriftsteller, als Dichter, nicht zuletzt als Übersetzer ja nicht nur an die Möglichkeit des Übertragens glaubte, sondern sie mit Literatur, das heißt mit Leben zu füllen vermochte wie kaum ein anderer. Wer das DDR-Ineinander vom Zauber der ersten beiden Lebensjahrzehnte und den in dieser Zeit ebenfalls erstmals erfahrenen staatlichen Anmaßungen nun auch in unserer Zeit einer jüngeren Generation zugänglich machen möchte, lese und verbreite dieses Buch. Es hat nämlich keinerlei Patina angesetzt, und noch immer gilt, was damals Heinrich Böll schrieb – dass in den „´Wunderbaren Jahren` keine einzige Zeile zufällig und so auch keine Zeile überflüssig ist“.
Denn so unverzichtbar auch das institutionell unterstützte Erforschen der Lebenswirklichkeiten von DDR-Jugendlichen ist – vom vermeintlich unspektakulären Alltag bis zu Extremerfahrungen wie etwa in den Jugendwerkhöfen – so wichtig ist (zusammen mit der psychosozialen Betreuung der oft bis heute traumatisierten Opfer) das Weitergeben dieser Erfahrungen an jene, die heute jung sind. Forschungsergebnisse, Statistiken, Ausstellungen, gewiss – vor allem aber Workshops und Zeitzeugengespräche in Schulen und an jenen leider noch immer allzu wenigen Universitäten, die sich für solches gewinnen lassen. Was, wenn nicht die konkreten Erlebnisse und Erfahrungen von ostdeutschen Jugendlichen, von Reiner Kunze auf derart schmerzlich wunderbare Weise verdichtet, könnten einer jüngeren Generation aufzeigen, was es wirklich bedeutet, in einer Diktatur aufwachsen zu müssen? (Gerade heute, wo die hechelnde Verächtlichmachung der Demokratie von den unbelehrbaren DDR-Nostalgikern hinüber gewandert ist zu den Neo- und Krypto-Nazis jener Partei, die nicht zufälligerweise Unterstützung erfährt durch die auswärtigen Regimes eines Xi und Putin.)
Als unsere Familie im Mai 1989 endlich den sogenannten „Laufzettel“ erhielt, um sich vor der nun doch noch genehmigten Ausreise überall abzumelden, hatte ich in der Kaderabteilung meiner damaligen Arbeitsstelle zu erscheinen. Deren Leiterin – ihr Name war Luther, Genossin Johanna Luther – blätterte in meiner Akte und heftete dann schnell und mit fahrigen Fingern jenes Blatt heraus, das den staatlich verfügten Rausschmiss aus meiner vorherigen Lehrstelle dokumentierte. Dann drehte sie mir den Rücken zu, blickte durch die nikotingelben Fenstergardinen und sagte mit leiser Stimme: „Nun nehmen Sie das schon. Es könnte Ihnen im Westen helfen.“
Ich nahm und faltete das Blatt (die ich bis heute aufbewahre) auf ebenso fahrige Weise und konnte mir, als ich ihr zum Abschied die Hand reichte, die Frage nach dem Warum nicht verkneifen. „Warum?“, wiederholte jene Genossin Luther. „Weil ich vor einigen Jahren einmal abends auf RIAS Berlin eine Lesung aus Reiner Kunzes `Wunderbaren Jahren` gehört habe. Und deshalb…“
Und deshalb. Und weil mitunter eines zum anderen kommt, und weil wir dann Ende Mai ´89 bereits im Aufnahmelager Gießen lebten und es dort im Rathaus der Stadt eine öffentliche Veranstaltung zum vierzigjährigen Jubiläum des Grundgesetzes gab mit einer Schriftsteller-Lesung, da… Vermutlich ahnen Sie es bereits. Mein Vater und ich nahmen in einer der hinteren Sitzreihen Platz, und als nach der Veranstaltung auch das Bücher-Signieren zum Schluss gekommen war, blieb noch eines der Exemplare der „Wunderbaren Jahre“ auf dem Tisch, und in dieses schrieb Reiner Kunze: Für Marko, in einer bedeutungsvollen Zeit mit besonderem Händedruck. Gießen, 23.5. 1989.
Wir verabredeten uns für den nächsten Vormittag, liefen durch die Gießener Fußgängerzone, und Reiner Kunze spielte seinen Erfahrungsvorsprung ebenso wenig aus wie zuvor mein Vater, als er mir jene Tipps gegeben hatte, um all die Vorladungen durchzustehen. Und so sprach Reiner Kunze dann nicht etwa von sich selbst und seinem Werk („Keine Sorge, ein Bücherpaket geht Ihnen zu, sobald Sie und Ihre Familie eine Unterkunft gefunden haben, dort am Bodensee“), sondern erzählte von den anderen, die ich doch unbedingt und bald treffen sollte – den Jürgen, die Freya, den Utz.
Und so begann, zusammen mit der bis zum heutigen Tag anhaltenden Freundschaft mit Reiner Kunze, die Freundschaft mit Jürgen Fuchs, der seit seinem frühen Tod im Mai 1999 von uns allen so elend vermisst wird, begann die Freundschaft mit Freya Klier und Utz Rachowski. Und was tat dann Jürgen Fuchs bereits bei einem unserer ersten Treffen? Erzählte von Manés Sperber, von seinem 1905 in Galizien geborenen väterlichen Freund, der als jüdischer Antinazi, Exkommunist und vor allem als nun in Paris lebender Romancier und Individual-Psychologe noch ganz andere Horizonte zu öffnen vermochte als einst Robert Havemann. Und auch das eine Ermutigung für uns heute: Nicht im eigenen Milieu verharren, sondern neugierig bleiben – über Generations- und Ländergrenzen hinweg.
Was Manés Sperbers Zeitgenosse, der in Litauen geborene französische Moralphilosoph Emmanuel Lévinas, uns allen auf diese Weise mit auf den Weg gegeben hatte, durch die Zeiten: „Das wirkliche Abenteuer besteht nicht im Zu-sich-selbst-Kommen, sondern in der Begegnung mit dem Anderen.“
Ich stünde heute bestimmt nicht hier, um in diesen Variationen und in immer neuen Anläufen von eben diesem Glück zu sprechen, von der Möglichkeit, aber auch der Notwendigkeit des Weitergebens, des Verknüpfens und Mitteilens, wäre dies lediglich eine private Erfahrung. Im Gegenteil: Es ist das Netz, das uns alle trägt. Und keine sogenannte „Generationen-Angelegenheit“ ist, die nicht weitergegeben werden könnte und in sich selbst archivarisch verkapselt bleiben müsste. Wobei freilich gerade diese Gefahr nicht zu unterschätzen ist. Denn selbstverständlich können wir nicht davon ausgehen, dass Jüngere mit ihrem ganz eigenen Erlebnishorizont all jene DDR-Geschichten, die uns geprägt haben, bereits kennen oder sogleich nachvollziehen können. Weshalb sollten sie das auch? Umso wichtiger erscheint mir, auf jene zuzugehen, die wissen möchten, wie es früher „eben auch“ war – nicht zuletzt, um Spuren freizulegen, die sich bis in unsere Gegenwart ziehen.
Heute sind es jüngere Autorinnen und Autoren wie etwa Charlotte Gneuß und Matthias Jügler, die sich in ihren Romanen auf ihre Weise mit den giftigen Hinterlassenschaften beschäftigten. Sie tragen Geschichten und damit auch Debatten weiter – allein dafür sollten wir ihnen dankbar sein.
Was indessen verzichtbar wäre, ist ein Missverstehen der DDR-Aufarbeitung als etwas Exklusives, lediglich an bestimmte Personen oder Institutionen Gebundenes. So nämlich manövriert man sich in eine sektiererische Sackgasse und selbstreferentielle Spiegelwelt, in der verbitterte Eifersüchteleien siedeln und ridiküle Konkurrenz- und Deutungskämpfe ausgefochten werden. Da ich in den letzten Jahren immer wieder gehört hatte, bestimmte Teile der „Aufarbeitungsszene“ (was für ein schreckliches Wort: „Aufarbeitungsszene“) seien untereinander „tödlich zerstritten“ – verzeihen Sie mir bitte, dass mir Zeit und Nerv fehlen, hier, wie es auf neudeutsch heißt, „tiefer einzusteigen“ – möchte ich die angeblich derart „tödlich Zerstritten“ eindringlich bitten: Unterlasst das, denn es beschädigt lediglich Eureachtbaren Biographien, Euer eindrucksvolles Lebenswerk. Oder wie mein Vater gesagt hätte, kurz und bündig: „Ihr seid die Guten. Also benehmt Euch auch so.“
Und die Brücke, von der im Lauf meiner Anmerkungen derart häufig die Rede war? Ist ja nicht nur eine Metapher, sondern auch real – zum Beispiel als Prager Karlsbrücke.
In deren unmittelbarer Nähe, am Masaryk-Quai, lebt zusammen mit seiner Frau Jelena der tschechische Romancier, Dramatiker und Charta-77-Mitbegründer Pavel Kohout. Mein Lebensgefährte und ich trafen das zauberhafte Paar erst kürzlich wieder zu Ostern, in Jelenas und Pavels Lieblings-Restaurant, einer holzgetäfelten Weinstube, in der sie bereits in den hoffnungsvollen Monaten des Prager Frühlings zusammen mit ihren Freunden gespeist, getrunken und debattiert hatten. Und jetzt, im April 2024 – wurden da etwa alte Geschichten wieder aufgewärmt?
Keinesfalls. Da die beiden doch bereits im Alter unserer Großeltern sind, wir zwei Prag-Besucher hingegen im Jahr 1968 noch nicht einmal geboren waren und überdies, was das Wichtigste ist, Jelena und Pavel Kohout unsere Fragen abwarteten, ehe sie zu erzählen begannen. Geschehnisse, über die wir bei all den vorangegangen Begegnungen noch gar nicht gesprochen hatten, etwa jene: Frühling in Prag, doch als Marta Kubisová das „Hey Jude“ der Beatles auf tschechisch sang, war bereits das Jahr 1969 angebrochen und mit ihm die bleierne Zeit der schrecklichen „normalizace“. Und die jungen Leute von damals? Hatten sie Fragen gestellt, als ihr Idol Marta Kubisová dann urplötzlich aus der Öffentlichkeit verschwand und aufgrund der Opposition zum Regime zur Hilfsarbeiterin gemacht wurde, während gleichzeitig ab nun nur noch Helena Vondrácková zu hören war, die die Diktatur mit gefälligen Liedchen verhübschte?
Nein, Pavel Kohout moralisiert nicht im Nachhinein. Da er doch um ´68 bereits vierzig Jahre alt gewesen war – und in seiner Jugend ein glühender Jungstalinist. Aber von Verantwortung spricht der inzwischen 96jährige Pavel, von Erinnerungstreue und der gleichzeitigen Verpflichtung, sich nicht einzuigeln in diesen Erinnerungen. Und dann, natürlich, sprechen wir von den heutigen Schrecknissen und Gefahren, von Putins Angriffskrieg und den Pro-Kreml-Kräften, die auch innerhalb der demokratischen Tschechischen Republik unterminierend ihr Unwesen treiben. Und von all denen, Jüngeren wie Älteren, die den Flüchtlingen aus der Ukraine Obdach gewähren und jenen verantwortungsbewussten Politikern, die bei der militärischen Unterstützung des angegriffenen Landes nicht verhängnisvoll verzögern, sondern pro-europäisch handeln.
Und in den Stunden danach? Sind wir wieder mal in unserem Lieblings-Club Termix oben in Prag-Vinhorady, und als irgendwann in den Stunden nach Mitternacht in einer Art gemäßigter Techno-Version „Hey Jude, co dá ti plác“ über den Dance-Floor hallt und in unserer Nähe einige der jungen, temporär in Prag arbeitenden Expats und internationalen digital nomads ziemlich überrascht sind, diesen dam good old song hier mit all diesen slawisch sanften I-Lauten zu hören, da ist es nun plötzlich an uns, bei ein paar Cocktails von dieser anfangs eher unpolitischen Marta Kubisová zu erzählen, von ihrem verweigerten Kotau vor dem Husak-Regime und den darauf folgenden zwei Jahrzehnten der Repression, schließlich ihres überwältigenden Comebacks in den Tagen der sametová revoluce vom November 1989 – und der bis heute anhaltenden Popularität einer dam mutigen Frau, die inzwischen bereits 82 Jahre alt ist.
Hey Jude, don´t make it bad. Take a sad song at make it better… Oder noch einmal, in Wolf Biermanns Worten: Du, lass Dich nicht verhärten/ In dieser harten Zeit.
Die andere Brücke, die ich abschließend in Erinnerung rufen möchte, trägt den Namen Tsing Ma und verbindet das Stadtgebiet Hongkongs mit dem internationalen Flughafen. In der ersten Januarwoche des Jahres 2020 waren wir aus unserem Hotel in Kowloon aufgebrochen, sehr bedrückt – nicht nur wegen der kurzen Artikel, die in den zu dieser Zeit zumindest noch halbfreien Medien der Stadt zu lesen waren und die von einer Häufung seltsamer Lungenkrankheiten in einer festlandchinesischen Stadt namens Wuhan berichteten. Die dortigen Offiziellen behaupteten voller Dreistigkeit, es gäbe keine besonderen Vorkommnisse, was durchaus Pekinger Logik entsprach: Das Hauptaugenmerk galt schließlich der Bekämpfung der Hongkonger Demokratiebewegung. An deren Millionen-Demonstration am Neujahrstag 2020 hatten wir noch teilgenommen, in der mit den jungen, aber auch älteren Menschen um uns herum geteilten Befürchtung, es könnte vermutlich die letzte große freie Manifestation gewesen sei. Wir trafen den Studenten-Aktivisten Joshua Wong, der uns in gänzlicher unprätentiöser Klarheit sagte, dass im Fall von Hongkongs Niederlage das freiheitliche Taiwan als nächstes ins Visier des neo-totalitären Regimes geraten würde.
Auf dem Weg zum Flughafen aber wies dann der Taxifahrer beim Überqueren jener sechsspurigen Tsing Ma Bridge auf die Gegenfahrbahn und erzählte uns, dass diese im September 2019 voller junger Leute gewesen war. Diese hatten zuvor am Flughafen gegen das neue, von Peking forcierte Sicherheitsgesetz protestiert, worauf die Polizei sogar mit Helikoptern anrückte und alle Bus- und U-Bahnstationen sperren ließ. Der Fahrer sagte: „Gleichzeitig aber hatten tausende Autofahrer mitbekommen, welche große Gefahr den jungen Leuten drohte. Also waren sie hierher gefahren, sofort. Am Ende der Brücke kamen ihnen dann auch schon die Demonstranten entgegen, die sich in ihrer Verzweiflung zu Fuß auf den Weg gemacht hatten. Sie luden sie also sofort ein und brachten sie sicher zurück in die Stadt. Tausende! So war das. Haben vielleicht im Ausland gar nicht so viele mitbekommen. Aber die dabei waren, werden es nie vergessen. Niemals.“
Joshua Wong befindet sich bis zum heutigen Tag im Gefängnis. Während man vom bedrohten Taiwan aus in die Ukraine blickt. In dem Maße nämlich, in dem das angegriffene Land militärisch zu widerstehen vermag, erhöhen sich auch die Chancen, dass die kleine freiheitliche Inselrepublik nicht – oder noch nicht – zum Opfer einer Pekinger Invasion wird.
Ich denke an meine jungen Freunde in Hongkong und in Taipeh, ich denke an die am 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival im Süden Israels niedergemetzelten Jugendlichen. Und ich denke an all die jungen Soldaten und Soldatinnen in der Ukraine, die jetzt – auch in diesem Moment, in dem wir hier zusammen sind – unsere Freiheit mit verteidigen. Weil manchmal eine Ermutigung auch darin besteht, Wirklichkeit nicht schönzureden, sondern sie so klar wie möglich zu benennen.
Lassen wir uns also nicht entmutigen. Und versuchen wir, so zu sprechen, dass auch jüngere Gegenüber uns verstehen – und wir sie. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen sehr.