Neben vielen anderen Demokratiefeinden melden sich jetzt auch Islamisten wieder zu Wort. Ihre Bestrebungen werden schon lange kleingeredet. Schlimmer noch: Man könnte ihnen entgegenkommen.

Deutsche Islamisten müssen Carl Schmitt lieben. Denn der Kronjurist des Dritten Reichs vertrat in den 1950er Jahren die Ansicht, der demokratische Verfassungsstaat sei aufs Übelste durchsetzt von Werten, so dass man von einer „Tyrannei der Werte“ sprechen müsse. Man hätte schon die Ohren verschließen müssen, um Ende April in den auf der Hamburger Islamisten-Demo laut skandierten Rufen „Stoppt die Werte-Diktatur“ nicht einen Widerhall der Schmittschen Formel vernehmen zu können.

Selbstverständlich muss man nicht wirklich Schmitt kennen, um als deutscher Islamist und Kalifat-Befürworter ein Ende der Geltung demokratischer Werte zu fordern – Werte wie sie zum Beispiel in den ersten zwanzig Artikeln des Grundgesetzes zu finden sind, also von der Menschenwürde, über die Glaubens- und Gewissensfreiheit bis hin zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.

Dazu gehört auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 5 und 8 GG), die selbst den Feinden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung das Recht gibt, die materiellen Grundlagen unseres Gemeinwesens laut abzulehnen. Ob das tatsächlich eine „Werte-Diktatur“ ist, liegt im Auge des Betrachters. Die große Mehrheit des deutschen Volkes wird keine erkennen können. Das laute Brüllen von Invektiven gegen Grundgesetz, Staat und seine Repräsentanten bleibt so lange vom Recht gedeckt, bis es darum geht, dass die grundgesetzlich gewährten Freiheiten „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht“ werden (Art. 18 GG und weitere).

Diese Blöße wird sich ein deutscher Islamist auf offener Straße wahrscheinlich niemals geben. Man ist gut organisiert, diszipliniert, lern- und kampagnenfähig, weiß die gängigen Medien zu nutzen und hängt sich einfach an gängige Diskurse. Das scheint erfolgversprechender. Daher überrascht es nicht, wenn sich der deutsche Islamist als Opfer sieht, gerne Toleranz einfordert, Teilhabe erwünscht und natürlich den Kolonialismus anprangert. Wobei es unwichtig ist, wer jetzt wen kolonialisiert – im Zweifelsfall denkt der Islamist ohnehin an Israel und diesen Landstrich da zwischen Jordan und Mittelmeer. Als weitere „Täter“ im Opferdiskurs kämen infrage: der deutsche Staat, die Medien und die Gesellschaft, die den „öffentlichen Diskurs bestimmen und islamische Werte zensurieren“, wie es der Aufruf zur nächsten Demonstration insinuiert. Gegen all das hat der deutsche Islamist, wenn er aus dem Kampf für den Islamischen Staat heil zurückgekommen ist (oder ihn wegen seiner Jugend verpasst hat), eine Lösung parat: Scharia und Kalifat.

TÄUSCHUNG UND RAFFINESSE

Auch wenn Scharia und Kalifat nun auf Ablehnung und Widerstand stoßen wegen des in Deutschland – auch bei Muslimen übrigens – noch weit verbreiteten Unwillens gegen die islamischen Gesetze sowie die weltlich und geistig unumstrittene Herrschaft eines Kalifen, so können sich die Islamisten doch immer wieder auf bestimmte Experten verlassen, wendige „Eigentlich-ist-alles-ganz-anders-Apologeten“, die Scharia und Kalifat in eine Art Märchenwelt versetzen, in der alles ganz harmlos und rein spirituell und mit deutschem Recht und deutschen Werten vereinbar sei.

Es darf bezweifelt werden, dass dahinter Blauäugigkeit steckt; dafür hat das zu viel Täuschungswillen und Raffinesse.

Um das zu erklären, lohnt es sich, noch einmal einen Umweg über Carl Schmitt zu machen. In seiner Polemik gegen die „Tyrannei der Werte“ diagnostizierte er den Grund für die Aufladung des Rechts mit Werten als eine Reaktion auf den Nihilismus des 19. Jahrhunderts. Schmitt ging sogar so weit, Adolf Hitler als Vertreter einer verdammenswerten Wertephilosophie zu sehen. Das ist natürlich eine vollkommene Verdrehung der Tatsachen, mit der sich der durch und durch antiliberale Schmitt, der die Morde an der SA-Führung 1934 mit einem Aufsatz rechtfertigte („Der Führer schützt das Recht“), nebenbei selbst reinzuwaschen versucht. Tatsächlich ist die Werthaltigkeit unseres Rechts eine Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik und die Gräueln und die Menschenfeindlichkeit des Dritten Reichs, die systematischen, durchorganisierten Massenmorde in den Konzentrationslagern. Daraus haben wir Lehren in Gestalt von Werten gezogen. Es ist nun einmal so: Dieser Staat ist auf den Ruinen des von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkriegs und auf den Gräbern von Millionen Ermordeter errichtet worden. Es gibt in der jüngeren Vergangenheit nichts Vergleichbares. Das ist nur zu ertragen, wenn man diese epochale Schuld als Staat und Gemeinwesen einsieht und die Erinnerung daran aufrichtig pflegt – und Lehren daraus zieht. Eine Lehre heißt „wehrhafte Demokratie“. Daher rühren die Werte, diese echte Form deutscher Staatsräson, die in den schon erwähnten Grundgesetzartikeln verankert sind. Sie können keinen ewigen, aber doch teilweise substantiellen Schutz vor den Feinden der Demokratie bieten. Eine Partei wie die AfD würde allerdings, sollte sie jemals an die Macht kommen, diese eher ignorieren, denn im institutionellen Teil des Grundgesetzes liegen die Schwachstellen (aber das kann hier in der gebotenen Kürze nicht erörtert werden).

ERINNERUNGSKULTUR, MULTIKULTI

Es gibt noch eine andere ungeschützte Flanke unserer wehrhaften Demokratie, die meist nicht beachtet wird. Es sind nicht die ungeschriebenen, aber leider brüchigen Regeln eines gedeihlichen Zusammenlebens wie Zivilität, Bürgerlichkeit, Respekt und Anstand, ohne die ein demokratisches Gemeinwesen kaum existieren, die aber staatlicherseits nicht verordnet werden können – das ist nicht das größte Problem.

Es ist vielmehr die politische Kultur, die in ihren Fundamenten und Gewissheiten attackiert wird. Und da spielen die Werte wieder eine bedeutende Rolle. Das schlagendste Beispiel, neben den Anschlägen auf einen fairen und gewaltfreien Wettbewerb, ist zurzeit: die Erinnerungspolitik. Sie ist ein zentraler Bestandteil unseres Wertesystems; sie ist Wertefundament und -horizont zugleich. Die Lehren aus den Verbrechen der Nazi-Zeit stecken nicht nur im Grundgesetz – sie stecken auch in der Erinnerungspolitik und auch im Bekenntnis „Nie wieder“. Was ist daran so schwer zu verstehen, dass Deutschland eine Wiederholung der Geschehnisse von 1933 bis 1945 auf seinem Boden verhindern will? Was kann ein Land mehr tun, als zu versuchen, dass sich die damaligen Menschheitsverbrechen nicht wiederholen?

Umso auffälliger ist es, dass seit Jahren Vertreter des sogenannten „Postkolonialismus“ – dieser intellektuellen Paleo-Diät der Geisteswissenschaften: auf der Vergangenheit fußend und sehr einseitig – stete Anstrengungen unternehmen, die deutsche Erinnerungspolitik zu verwässern: nämlich die Singularität des Holocaust infrage und damit dieses besonders ungeheuerliche Ausrottungsunternehmen in eine Reihe mit vielen anderen, vergleichsweise kleineren historischen Schandtaten zu stellen, die alle irgendwie durch Rassismus miteinander zusammenhängen sollen. Was letztlich – und sicher nicht nur als Nebeneffekt – darauf hinausläuft, die Legitimität des israelischen Staates als eine sichere Heimstatt gegen den Antisemitismus zu unterminieren. In diesem Zusammenhang ist es mehr als ärgerlich, nämlich gefährlich, dass die Ampel-Regierung in Gestalt ihrer Kulturministerin Claudia Roth als Pionierin in diesem postkolonialen Sinne eine neue staatlich verordnete Erinnerungspolitik betreiben will. Die Erinnerungskultur ist also anscheinend das nächste große Multikultiprojekt und das Stemmeisen, mit dem die ideellen Schutztüren aufgebrochen und die Umwertung der bisher geltenden Werte vorangetrieben wird. Das ist der Zusammenhang, auf den die Wertekritik der deutschen Islamisten zielt: Jeder, der die Stimme erhebt, soll gleichwertig gehört und respektiert und unwidersprochen akzeptiert werden. Es ist, wie ein postmoderner Grundsatz lautet, nicht entscheidend, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Die Kulturministerin kommt dem entgegen und ist der Ansicht, dass alle gehört und sogar gleichwertig gehört werden sollen. Wenn man überlegt, dass in Deutschland Bürger aus über 170 Nationen leben, dann drängt sich schon das Gefühl auf, bei dem Projekt könnte es sich um eine gewaltige Kopfgeburt handeln. Aber wen wundert das in einer Zeit, in der die dümmsten Verirrungen mit Lehrstühlen, Instituten und staatlichen Aufträgen belohnt werden?

Was dürfen wir bei der von der Ampel verordneten Erinnerungskultur erwarten? Denkmale für palästinensische Märtyrer oder Huthi-Rebellen im Krieg gegen Israel? Oder den Al-Quds-Tag, den Chomeini als Kampftag gegen Israel ins Leben rief, als festen staatlichen Erinnerungstag in Deutschland? Die Rechnung ist einfach: Nach der Gleichsetzung aller Werte folgt Schritt für Schritt die Umwertung der alten Werte, und am Ende stehen ganz neue „Werte“, die mit dem Charakter der alten Republik nichts mehr zu tun haben. Der Holocaust als politisch-kultureller Orientierungspunkt ist dann auf die Größe einer Erbse geschrumpft. Weitere, noch lautere Stimmen, die die Forderungen nach Teilhabe gerne aufgegriffen und eine Zeitlang strategisch nachgeplappert haben, werden sich dann mit solch sentimentalem Kleinkram gar nicht mehr abgeben und alles fordern, bis sie den neuen alten Antisemitismus zum Leitwert erhoben haben.

Aber seien wir fair und stellen wir uns doch die Frage, ob das alles so von Claudia Roth tatsächlich gewollt ist. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich ist, dass sie einfach zu sehr in einer Mischung aus Selbstberauschung und Selbstbeweihräucherung gefangen ist, dass sie, wie viele andere, feststeckt in der „Progressiv“-Falle: man ist sich todsicher, dass man die Welt verbessert, und merkt nicht – wie das Gegenteil erreicht wird.