Darf's noch ein bisschen Antisemitismus sein?
Weil der Bundestag klare Kante gegen Judenhass zeigt, fühlen sich deutsche Kulturschaffende in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt und veröffentlichen ein Plädoyer der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“. Das Dokument ist eine Bankrotterklärung, moralisch, intellektuell und sprachlich. Und der Titel ist ein Skandal.
Deutsche Intellektuelle und deren staatlich alimentierte Einrichtungen sprechen sich gegen einen Boykott Israels aus. Ohne Wenn und Aber. In aller Entschiedenheit. Um dies noch einmal klar und eindeutig zu betonen, haben sie jetzt einen Aufruf veröffentlicht. Darin fordern sie, dass Vertreter jenes Israel-Boykotts, den sie unzweideutig ablehnen, auch in Zukunft staatlich geförderter Teil deutscher Debatten über Israel und den Nahostkonflikt sein sollen. Weil man sonst ja „wichtige Stimmen“ gewissermaßen auch boykottieren würde, und das auch noch durch „missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs“, wie es in dem Plädoyer heißt. Wer das für einen Widerspruch hält, der zeigt nur, dass er von Diskurs ab einem bestimmten Niveau keine Ahnung hat. Schließlich setzt Weltoffenheit, wie wir sie verstehen, „eine politische Ästhetik der Differenz voraus, die Anderssein als demokratische Qualität versteht und Kunst und Bildung als Räume, in denen es darum geht, Ambivalenzen zu ertragen und abweichende Positionen zuzulassen. Dazu gehört es auch, einer Vielstimmigkeit Freiräume zu garantieren, die die eigene privilegierte Position als implizite Norm kritisch zur Disposition stellt.“
Und weil das so ist, gibt es ja bekanntermaßen auch einen Aufruf derselben Unterschriftsteller, in dem sie den absoluten Vorrang eines verringerten CO2-Ausstoßes betonen und gerade deshalb darauf drängen, dazu auch die Betreiber der dreckigsten Braunkohle-Kraftwerke der Welt in staatlich geförderten Räumen und Instituten auftreten zu lassen. Auch, dass der Bundestag mit großer Mehrheit die finanzielle Förderung von so genannten Rechtsrock-Konzerten nach wie vor ablehnt, obwohl dort doch eine Menge wichtiger Stimmen der Jugend – insbesondere aus dem unterprivilegierten Ostdeutschland – zu hören sind, sehen der Intendant des Kölner Schauspiels und die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung in einem entsprechenden Aufruf kritisch. Zuletzt machte der Aufruf die Runde, im Goethe-Institut und auf kommunalen Bühnen Raum für Vertreter der polnischen Zivilgesellschaft zu schaffen, die Homosexualität sowie jede Form der Abtreibung mit Gefängnis bestrafen wollen.
Nicht? Natürlich nicht.
Zynischer Wortunsinn
Wenn deutsche Intellektuelle den Notstand ausrufen, weil sie die Meinungsfreiheit und den freien Diskurs gefährdet sehen, dann geht es um Israel. Die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ hat sich einzig dazu gegründet, dafür einzustehen, dass man Israel-Boykotteure nicht boykottieren soll. Die Sehnsucht, in deutschen Kirchen und auf deutschen Bühnen Narrative vom bösen Israeli zu erzählen, ist dabei vor allem die Sehnsucht der Einladenden und des Publikums – bisher jedenfalls ist noch kein Fortschritt für die Menschen im Nahen Osten durch Vorträge im Gemeindehaus von Bad Salzuflen erzielt worden. Es geht um deutsche Diskurse. Nichts schränkt diese und den deutschen Horizont derart ein wie dieser vermaledeite Verzicht auf eine Perspektive, in der die Verbrechen der Nazis aufgewogen werden durch die Verbrechen der Israelis an den Palästinensern. Und weil deutsche Kulturdenker sich diese Perspektive dank vollendeter Bewältigung nicht selbst genehmigen können, brauchen sie den nützlichen Idioten aus dem Nahen Osten, den Araber mit seiner „historischen Erfahrung von Gewalt und Unterdrückung“. Denn selbst beim Recht auf Israelkritik geht es nicht um Israel, nicht einmal um die Opfer israelischer Politik. Es geht immer nur um „uns“, um „unsere“ verdammte deutsche Vergangenheit, die, wie die Unterzeichner schreiben lassen, „einerseits geprägt ist durch den beispiellosen Völkermord an den europäischen Juden und Jüdinnen und andererseits durch eine späte und relativ zögerliche Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte. Dazu bedarf es eines aktiven Engagements für die Vielfalt jüdischer Positionen und der Öffnung für andere, aus der nichteuropäischen Welt vorgetragene gesellschaftliche Visionen.“
Und wenn diese Vision eine Welt ohne jüdischen Staat vorsieht, dann sei’s drum. Das ist letztlich die Aussage dieses inhaltlich und sprachlich missglückten, weichgespülten Wortunsinns. Denn er stellt Behauptung auf, wir Deutschen dürften nicht bedingungslos gegen antisemitische Positionen in der „nichteuropäischen Welt“ einstehen. Wir dürfen es nicht, weil dies einzig und allein der Konsequenz aus unserer Vergangenheit als Jüdinnen-und-Judenmörder*innen entspringt. Und weil wir unsere Kolonialgeschichte nicht bewältigt haben. Zwischen Holocaust und Kolonialismus besteht zwar keinerlei Zusammenhang, aber darauf kommt es nicht an, wenn man einen Text schreibt, in dem allen Ernstes sogar der Verzicht auf Judenhass als Teil der „implizierten Norm der eigenen privilegierten Position“ interpretierbar wird.
Ja, genau so zynisch ist das Ergebnis, wenn man dieses Plädoyer wörtlich nimmt. Wenn wir bereit sein wollen, und wer will das nicht, die im Kolonialismus gewachsene privilegierte Position aufzugeben, müssen wir nicht etwa Stimmen aus Namibia hören oder beispielsweise überlegen, ob das Christentum dem afrikanischen Kontinent mehr geholfen oder mehr geschadet hat. Nein. Wir müssen bei der Abneigung gegen Antisemitismus toleranter werden. Wir müssen öffentliche Räume für Ausstellungen mit nachweislich falschen Darstellungen des Nahostkonflikts zur Verfügung stellen und wir müssen in den Etats deutscher Kultureinrichtungen Mittel berücksichtigen, um auch jüdischen Stimmen Gehör zu verschaffen, die den Staat Israel ablehnen. Sonst würde uns im deutschen Kulturleben etwas fehlen. Wir blieben auf ewig in unserer Kolonialgeschichte und in dem falschen Reflex gefangen, genauso solidarisch zum Staat Israel zu sein wie wir es zu Frankreich oder Schweden sind.
Psychopathische Beschäftigung mit Israel
Es ist ermüdend und macht krank, festzustellen, dass diese psychopathische Beschäftigung mit Israel einfach nicht aufhört und dass keine eindeutige Definition von Antisemitismus je dazu führen wird, deutsche Intellektuelle aus ihrer selbst definierten Opferrolle zu befreien. Neu an dem Aufruf ist allerdings die üble Nachrede über den Bundestag. Der habe mit seiner Resolution eine Logik des Boykotts ausgelöst, gefördert durch eine „missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs“.
Diese Behauptung wird von den Autoren vorsichtshalber nicht belegt. Denn auch sie müssten allein aufgrund ihrer großen intellektuellen Kompetenz erkannt haben, dass es im Beschluss des Bundestags eben nicht darum geht, Menschen, die eine völlig verquere Haltung zum Nahostkonflikt vertreten, in Deutschland nicht reden oder publizieren zum lassen. Es geht einzig und allein darum, dass diese Auftritte nicht auch noch von staatlichen Institutionen finanziell gefördert werden sollen. Der Bundestag hat in seinem Beschluss selbst die engen Grenzen dieser Einschränkung eindeutig gezogen. Sie betreffen „Organisationen, die sich antisemitisch äußern oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen“. Später werden den „Organisationen“ noch „Projekte“ hinzugefügt, an keiner Stelle jedoch „Personen“. Das ist eine wichtige und sicher bewusste Formulierung. Umstrittene einzelne Menschen sind dezidiert nicht erwähnt. Damit fällt die Schimäre einer drohenden Einschränkung der Meinungsfreiheit bereits in sich zusammen, die der Aufruf mühsam aufbaut. Artikel 5 des Grundgesetzes ist, wie alle Grundrechte, vor allem ein Abwehrrecht des Individuums gegenüber dem Staat. Absatz 3 lautet: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“.
Und das ist der Kern. Wenn man den ganzen hochtrabenden Wortbombast weglässt, die Fremdwörter und die Nebensätze, dann wurde dieses Plädoyer geschrieben, damit man auch in Zukunft Steuergeld für die Unterstützung von Organisationen und Projekten ausgeben darf, die sich antisemitisch äußern oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Das ist schon über jeder Grenze. Dieses Plädoyer auch noch mit „Initiative GG 5.3“ zu überschreiben und damit in den Raum zu stellen, die überwältigende Mehrheit des Bundestags habe in einer parteiübergreifenden Resolution (ohne AfD und Linke) eine Einschränkung eines Grundrechts vorgenommen, ist jedoch ein regelrechter Skandal. Abgeordnete werden in hochgestochenem Tonfall aber inhaltlich in lupenreiner Querfront-Manier des Verfassungsbruchs geziehen. Und zwar, weil sie Kante gegen Judenhass gezeigt haben. Um sich dagegen zu wehren, werden die Angesprochenen nicht einmal die Antisemitismuskeule brauchen. Ein kritischer Blick in die Kulturetats in Corona-Zeiten könnte helfen.