Viele Plakate zur Europawahl wirken, als hätten die Parteien keine Lust mehr. Doch was wäre, wenn hinter missglückten Slogans, billiger Typografie und schiefen Bildern weder Schlamperei noch Inkompetenz steckten – sondern eine irre Wette?

Sie haben getauscht. Anders lassen sich Slogans, Typografie und Bildsprache auf vielen Wahlplakaten deutscher Parteien zur Europawahl nicht erklären. So unfreiwillig komisch, so lustlos und schlampig kann niemand sein. Beim besten Willen nicht. Höchstwahrscheinlich steckt etwas anderes dahinter. Eine Wette. Eine jener Wetten, die einem in den Kopf schießen, wenn man bei einem Marketingkongress bis tief in die Nacht an der Bar sitzt und damit prahlt, wie dämlich die eigenen Kunden sind. Kurz: Typisch alkoholbedingtes Macho-Gehabe. Und dessen Folgen.

Mit von der Partie waren offenbar mindestens die Macher der zuständigen Werbeagenturen von SPD, Grünen, FDP, ÖDP und Volt sowie der Ehrenamtliche Ausschuss Wahlplakate des Zentralkomitees der MLPD. Und jemand von Barilla, dem Nudelkonzern. Der Einsatz: ein Treffen mit Christoph Metzelder oder ein Tagessatz von Fischer Appelt. Dafür gingen die Kreativen die Wette ein, dass ihre eigenen Kunden in den deutschen Parteizentralen es nichtmal merken würden, wenn man ihnen den Wahlkampf der Konkurrenz vorlegt. Sie haben die Wette gewonnen.

Und so kommt es, dass die Grünen in deutschen Städten für die FDP werben. „Eine mutige Gesellschaft lässt sich keine Angst machen“ steht auf einem der Grünen-Wahlplakate. Eine mutige Gesellschaft? Keine Angst mehr vor Kernenergie, Kohle, Elektrosmog, saurem Regen, Gentomaten, Glyphosat, Benzin, Diesel, CO2, Fleisch, Fracking, Plastik, Autos, Straßenbau, Vermietern, Nazis, Amis, Russen, Flüchtlingen in Tübingen, Flugzeugen, Stickoxid und Lärm? Vor so viel Mut müssen reihenweise Grünen-Stammwähler vom Fahrrad gefallen sein. Zum Glück tragen die meisten ja einen Helm.

Allerdings hat die FDP keinen Grund, sich darob typisch neoliberaler Schadenfreude hinzugeben. Denn um das Plakat ihrer Spitzenkandidatin hat sich parallel der Herr von Barilla gekümmert.„Innovatives Europa: Überlassen wir die Digitalisierung nicht dem Rest der Welt“, fordert die strahlende Nicola Beer. Dazu trägt sie eine dicke Halskette aus trockenen Spirelli-Nudeln. So geht Content-Marketing im digitalen Zeitalter.

Die Marxistisch-Leninistische Partei (MLPD) präsentiert derweil das Ergebnis ihres Seminars „Grundrechte im Spätkapitalismus“ gleich auf mehreren Plakaten. Dass sich die Genossen den Spruch „Für das Recht auf Flucht!“ wirklich selbst ausgedacht haben sollen, erscheint jedoch weit hergeholt. Da liegt der Schluss näher, dass sich die eigentlich für die SPD angeheuerte Agentur endlich für die Zwangsfusion mit den Kommunisten in der DDR gerächt und den Mauerblümchen der deutschen Linken einen Slogan untergejubelt hat, der weitere intensive Theorieseminare nach sich ziehen dürfte. 

Bei den Neulingen von Volt dagegen sind Hammer, Sichel, Hopfen und Malz verloren. Zumindest, wenn es darum geht, die Begründung für ihre politische Vision zu ergründen. „Weil das Klima keinen langen Atem hat“, steht da. Ernsthaft? Wir wollen uns gar nicht lange mit dem schiefen Bild aufhalten und einwenden, dass das Klima nicht atmet. Vielmehr springt jedem einigermaßen logisch denkenden Menschen ins Auge, dass hier einzelne lokale Vertreter der aktuellsten Version einer seit ungefähr 300.000 Jahren nachgewiesenen Spezies einem seit etwa vier Milliarden Jahren existierenden System mangelnde Geduld nachsagen – und daraus eine hektische Empfehlung für eine Wahl ableiten. Frank Schätzing würde das Klima auf diese Verleumdung glatt mit einem Weltuntergangsroman antworten lassen, aber offenbar kann Volt gar nichts dafür. Der Slogan stammt stattdessen sicher von jenem kreativen Holzbrillenträger in der Agentur der Grünen, der in diesem Moment dabei ist, seine Kampagne minimal verändert einem Kaugummikonzern für die neue Marke „Friday-Future-Mint“ vorzuschlagen: „Damit das Klima einen frischen Atem hat.“

Und so könnte man weiter durch den Plakatewald wandern und staunen, wie die Genossen von der MLPD ausgerechnet der Tierschutzpartei in ehrenamtlich bunter Typografie das Thema Wohnraum für Menschen angedreht haben, während die ÖDP unter Wortschöpfungen wie „Weniger Ausbeutung ist mehr Fairbesserung“ leiden muss. Letztere hatte ein Praktikant der Satirepartei Die PARTEI in einem Koffer in jener Hotelbar hinterlassen, in der die betrunkenen Werber ihren Plan schmiedeten. Jenen Plan, der alles erklärt.

Geklärt ist damit auch, wer hinter der kreativen Kandidatenliste der PARTEI steckt, die auf Deutschlands Wahlzetteln zu finden sein wird. Bombe, Krieg, Göbbels, Speer, Bormann, Eichmann, Keitel und Heß lauten die Nachnamen der Kandidaten ab Platz 3. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland der Funke-Mediengruppe erklärt seinen Lesern quer über alle angeschlossenen Regionalzeitungen hinweg vorsichtshalber, an welche „bekannten Persönlichkeiten“ die Nachnamen erinnern. Für die Mühe, mal bei einem Experten oder gar dem Bundeswahlleiter nachzufragen, ob und wie das Zustandekommen solcher Listen geprüft wird, war dann keine Zeit mehr. 

Eigenen Angaben zufolge wollen die gesellschaftskritischen Scherzbolde der PARTEI mit der listigen Liste jedenfalls Stimmen verwirrter AfD-Wähler einsammeln. Hahahahaha. Kannste dir nicht ausdenken? Doch. Wahrscheinlich stammt die Idee aus jenem  Klassiker, den ein Mitarbeiter der ÖDP dem PARTEI-Praktikanten heimlich in den Mantel steckte, als dieser sich nach gelungenem Koffer-Trick allzu selbstgewiss aus der Bar schlich. Das Buch heißt: „Deutscher Humor: 88 Namenswitze“. Autor: Adolf Böhmermann.