Das Ibiza-Video hat nicht nur Folgen für Österreich gezeitigt, sondern ein grundsätzliches Wagnis aller liberalen Demokratien deutlich gemacht. Ein paar Gedanken über Tugenden, Moral und eine ganz besondere Liebe.

Vielleicht hat dem österreichischen Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache nur ein guter Verwandter gefehlt. So einer wie Onkel Heinz. Der ehemalige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, erinnerte sich in seinen Memoiren gerne an ihn: Dieser Onkel Heinz schenkte ihm als Kind eine Ausgabe der Selbstbetrachtungen des Marc Aurel, römischer Kaiser im 2. Jahrhundert und Zeit seines Lebens Stoiker. Der lehrte ihn durch die jugendliche und vor allem die erwachsene Lektüre hindurch eine Haltung der Gelassenheit, Pflichterfüllung, Mäßigung und Menschlichkeit. Schmidt wusste, dass Marc Aurel nicht immer gemäß seinen Prinzipien gehandelt hatte, aber er nahm die Selbstbetrachtungen als das, was sie zuerst sind: Selbstermahnungen, die es in vielen politischen Momenten braucht, um den eigenen Kompass der Überzeugungen und Tugenden nicht aus den Augen zu verlieren.

Doch Tugenden sind aus der Mode gekommen. Als sich Helmut Schmidt im Streit um den NATO-Doppelbeschluss Anfang der 1980er Jahre zu seiner eigenen Verteidigung und um den Vorwurf zurückzuweisen, er sei ein Kriegstreiber, auf seine Berechenbarkeit, seine Standhaftigkeit und auf die Kraft seiner ganz besonderen Kardinaltugend Vernunft berief, da wies ihn der aufstrebende Oskar Lafontaine zurecht, das seien Sekundärtugenden, mit denen könne man auch ein Konzentrationslager betreiben. Damit hatte der Gelegenheitskantianer aus dem Saarland die Tugendhaftigkeit des Bundeskanzlers quasi entblößt und deutlich gemacht, dass die züchtigende Selbstermahnung auch nur eine Selbstrechtfertigung für eine unpopuläre und waghalsige Politik sein konnte.

Heute gilt mehr denn je Kants Moralphilosophie für alles und jeden mit der autosuggestiven Kraft des guten Willens. Sie hat jede Tugendlehre abgelöst – allerdings ohne die weiterhin im Raum stehende Frage zu beantworten, wie der freiheitliche Staat seine Voraussetzungen wie Gemeinsinn und ein verbindendes Ethos hervorbringt, ohne die er nämlich nicht existieren kann.

Das Ibiza-Video mit den FPÖ-Maulhelden Strache und Gudenus hat uns genau daran erinnert – wenn es auch nur Erwartbares wie in einem peinlichen Schwank eines schlechten Bauerntheaters lieferte: Das Wagnis der Freiheit kann auch die Feinde der Freiheit an die Spitze eines freiheitlichen Verfassungsstaates bugsieren. Dann bekommt man die Agenda und die Überzeugungen von Rechtspopulisten quasi in Reinform präsentiert: Die Macht solle über dem Recht stehen; die Gewaltenteilung gelte es aufzuheben; republikanische Ideale seien altmodisch und was für Schwächlinge; der Zweck heilige wirklich alle Mittel, auch Betrug; das Gemeinwesen dürfe ruhig zur Beute gemacht werden; Radikalismus und Vulgarität seien einfach geil. Wenn solch ein eklatanter Mangel an Tugenden, Werten und moralischen Prinzipien herrscht, dann ist die Gefahr groß für die Freiheit.

Die Tugend der Bürgerinnen und Bürger

Natürlich sind solche antiliberalen Anwallungen nicht nur auf der rechten Seite der Macht zu finden. Wenn man liest und hört, wie viele Journalisten, Aktivisten und andere Influencer mit dem Bezug auf wissenschaftliche Expertise und moralischer Unabwendbarkeit um Verbote und Vorschriften durch eine Ökodiktatur momentan geradezu betteln, dann weiß man, wie groß das Wagnis der Freiheit wirklich ist. Dann hilft auch eine Orientierung am Guten, wie sich das Kant vorgestellt hat, nicht, denn sie schützt nicht vor dem unmoralischen und illiberalen Handeln, um das vermeintlich Richtige vielleicht erreichen zu können. Zu oft schon ist die angenommene gerechte Gesinnung in alle möglichen Formen systematischer Unterdrückung geendet, die das Gute auf der Fahne vor sich her trug.

Freiheit birgt strukturell so viel Offenheit und Möglichkeiten, dass auch das Risiko eines Umschlagens in Unfreiheit immer gegeben ist. Davor schützt bis zu einem gewissen Grad die institutionelle Festigkeit einer Verfassung wie die deutsche. Wenn der Souverän – sprich: die Mehrheit des Volkes – aber die Notwendigkeit einer freiheitlichen Ordnung nicht mehr sieht, dann ist ihr nicht mehr zu helfen.

Schon Aristoteles war der Überzeugung, dass sich die Tugend eines Staates auf die Tugend der Bürgerinnen und Bürger gründe und dass diese Tugend auf einem Mix aus Gewöhnung und vernünftiger Einsicht beruhe. Da wären wir dann wieder beim Onkel von Helmut Schmidt: Wir müssen einander immer wieder daran erinnern, was tagtäglich auf dem Spiel steht, welche Tugenden wichtig sind und wert zu leben und weiter zu geben. Aber die Freiheit schützt und rettet am Ende nur – die Liebe zur Freiheit.