An allem Übel sind die Alten schuld? Mitnichten!

Es gibt eine neue schrille Erzählung, und die geht so: Während die jüngere Generation weltoffen und prodemokratisch ist, nehmen uns die Alten mit ihren aus Angst und Frust geborenen Ressentiments die Zukunft weg.

Für die steile These muss das Wahlverhalten beim Brexit-Referendum ebenso herhalten wie das Alter von Trumps Wählerschaft. Inzwischen wird sogar biologistisch argumentiert: Wer im Spätherbst seines Lebens stecke, sei „naturgemäß“ viel panischer, mürrischer und rachsüchtiger als die Jungen.

Wutbürgerliche Keifereien – so etwa in Internetkommentaren, die ganz gewiss auch auf diesen Text wieder folgen werden – scheinen diese Annahme zu bestätigen.

Doch gemach. Jungsein schützt vor Torheit nicht, und es waren – von den Armenier-mordenden Jungtürken bis zu den Jungspunden in SA und SS – durch die Geschichte hinweg immer wieder auch Angehörige nachwachsender Generationen, die den gesellschaftlichen Komment auf entsetzliche Weise brachen, um dort, wo zuvor Kontinuität war, Massengräber zu hinterlassen.
Zupackende Alte räumten Schutt beiseite

Ein feiner Zeitbeobachter wie Joseph Roth wusste jedenfalls genau, weshalb er seinem guten alten K.-u.-k.-Kaiser Franz hinterhertrauerte und von den neuen Machern nur das Schlimmste erwartete.

Und wer räumte nach 1945 in Westeuropa den ganzen, in nihilistischer Absicht aufgetürmten Schutt wieder beiseite? Zupackende Alte wie Kanzler Adenauer, Präsident de Gaulle oder visionäre alte Italiener wie Alcide De Gasperi und Aldo Spinelli.

Ihre Lebenserfahrung lehrte sie nicht etwa das großväterliche Beharren auf einfachen Wahrheiten, sondern eine Umsicht, die tief aus der Erinnerung schöpfte, um die Gegenwart besser zu machen.

Was lehrt uns das heute? Womöglich die Einsicht, dass sich „heute“ nicht ohne das Gestern begreifen lässt und diese Wahrheit keine banale Sonntagsrede ist, sondern uns davor bewahrt, zu augenblicksabhängigen Gegenwartsidioten zu werden.

Die Gedanken und Taten der Alten sind bestes Antidot gegen Larmoyanz und die törichte Annahme, wir wären die Ersten, die sich mit fundamentalen Problemen herumzuschlagen hätten.

Dabei geht es – in den Worten des 1905 in einem galizischen K.u.k.-Schtetl geborenen Schriftstellers und Individualpsychologen Manès Sperber – „weniger um die unbrechbare Hoffnung als um die kategorische Zurückweisung der Mutlosigkeit und somit den Widerstand gegen die Resignation“.

Der einstige Alfred-Adler-Schüler, Anti-Nazi und nach dem Hitler-Stalin-Pakt überzeugter liberaler Antikommunist, wusste genau, wovon er sprach: Nicht nur eine einzige, scheinbar intakte Welt hatte er unter Trümmern verschwinden sehen, nicht nur geografische und ethische Grenzen, sondern auch ganze Denkgebäude waren während seiner Lebenszeit untergegangen.

Ist seine Erkenntnis, von den Brüchen her zu denken anstatt von vermeintlicher Stabilität, nicht aktueller denn je – gerade für jene aufgrund der Weltlage Verzweifelten, die sich nach Halt in einer wirklichen Tradition sehnen?

Es war Mitte der von Atomkriegsängsten geprägten 80er-Jahre, der inzwischen greise Sperber hatte gerade den Tod seines langjährigen Intellektuellenfreundes Raymond Aron zu verkraften, da klopfte es an seiner Pariser Wohnung nahe des Jardin du Luxembourg.

Vor der Tür stand ein junger Mann, der ein paar Jahr zuvor aus der Stasihaft in den Westen abgeschoben worden war und nach einer Orientierung suchte, die mehr zu bieten hätte als deutsch-deutsches Klein-Klein: Jürgen Fuchs, ebenfalls antitotalitärer Schriftsteller, ebenfalls Psychologe. Von den Brüchen her denken, sich niemals entmutigen lassen, nichts als gegeben hinnehmen …

Als ich als Kriegsdienstverweigerer aus der DDR kam, war es dann Jürgen Fuchs, der mir vom illusionslosen Elan jenes 1985 verstorbenen Manès Sperber erzählte und von all den anderen sprach, die ja noch lebten und auf ähnliche Weise gegen die Mutlosigkeit kämpften.

Der sanfte Lew Kopelew, der entsetzliche Gulagjahre überstanden hatte und über diese Extremerfahrung seither Bericht gab.

Ralph Giordano, der an die unveräußerlichen Menschenrechte glaubte und sich konkret engagierte – eben weil er aus der Erfahrung des Schoahüberlebenden genau wusste, wie fragil unsere Demokratien sind.

Der Philosoph André Glucksmann, der in seinem Pariser Domizil hinter der Gare du Nord ein ums andere Mal davor warnte, unsere eigene humane Gestimmtheit selbstgefällig zu verkitschen und als Basis der Welt misszuverstehen. Stattdessen: „Die Gemeinschaft der Überzeugten muss der Solidarität der Erschütterten weichen, will man Ethik begründen.“

Ebenso konsequente wie menschenfreundliche Zeitgenossen, von denen gerade heute zu lernen wäre, dass ein plötzliches Kippen in Agonie oder gar Barbarei immer, überall und jederzeit im Bereich des Möglichen liegt und keineswegs reserviert ist für die Geschichtsbücher.

Weshalb auch sollte die Erfahrung des Zusammenbrechens ganzer Gesellschaften nur für die Vergangenheit Geltung besitzen und kein Menetekel für unsere Gegenwart sein?

Diese Klarheit geht noch über das hinaus, was der amerikanische Arzt und Lyriker William Carlos Williams, befragt nach seinem Lebensresümee, einst lakonisch gemurmelt hatte: „Lot of dirty guys out there“ (Deutsch: Ne Menge Scheißkerle da draußen.) Wohl wahr!

Freilich gilt ebenso: Ne Menge guter Typen – vor allem dann, wenn sie sich nicht auf einen Sockel stellen (lassen) und nicht Großväterlich-Gravitätisches von sich geben.

Denn auch die berechtigte Warnung vor dem stets lauernden Verfall braucht den lichten Gegenentwurf, den – wie Jürgen Fuchs in den düsteren Zeiten von General Jaruzelskis Kriegsrechtsregime schrieb – „Frühling, die Lieder und Gedichte, die Schönheit und die Frechheit“.

Unvergesslicher Moment deshalb in diesem Herbst in Polen: Eine öffentliche Aussprache in Breslau mit Lech Walesa, der sich überhaupt nicht darum kümmerte, was draußen die dortigen „dirty guys“ unfroh in ihre Megafone grölten: „Volksverräter-EU-Knecht-Judas…“

Der füllig gewordene alte Kämpe mit dem Seerobbenschnurbart aber sprach: „Jammert nicht über Kaczynski oder Putin oder Trump, sondern bewegt eure Ärsche. Und glaubt nur nicht, dass ich und meine Frau Danuta euch ein weiteres Mal in die Freiheit führen, kapiert? In den 80er-Jahren war es noch viel schlimmer, also gebt nicht auf, schließlich haben wir es noch jedes Mal geschafft.“

Unweit jenes Versammlungssaals war im Herbst 1942 die junge, bis dato behütet aufgewachsene Breslauer Jüdin Renate Lasker zusammen mit ihrer Schwester verhaftet und ein Jahr darauf nach Auschwitz und danach nach Bergen-Belsen deportiert worden; im Unterschied zu ihrer Familie überlebten die beiden Frauen.

Später heiratete Renate Lasker den Publizisten Klaus Harpprecht, der als Willy Brandts Redenschreiber, Verleger zu einem der großen und gleichzeitig entspannten Mutmacher dieser Republik wurde. Vor einigen Wochen starb er im hohen Alter von 89 Jahren.

Frau Renate, inzwischen 92 und hellwach, aber sagte bei unserem jüngsten Treffen in Berlin: „Jetzt muss Ihre Generation dort weitermachen, wo Klaus aufgehört hat. Versprochen?“

Es sind die Worte solcher Alten, die jung bleiben lassen. Mehr noch: Die Energie schenken, um nicht zu resignieren, den falschen Luxus des Wehleids zu verschmähen.

Dies ist eine Zweitveröffentlichung, erstmalig erschienen bei welt.de