Deutschland wird sich zur russischen Bedrohung der Ukraine neu positionieren müssen.

Als die rot-grüne Bundesregierung im Herbst 1998 ihren Dienst antrat, waren ihre Ziele innenpolitisch: Sie wollte Deutschland vom Muff der Kohl-Ära befreien und einen gesellschaftlichen Neustart wagen. Doch es kam anders. Die erste Herausforderung für Rot-Grün war der Kosovokrieg, ein Konflikt, der bereits länger schwelte und unmittelbar nach dem Antritt der Regierung eskalierte. Gerhard Schröder behauptete damals zwar flugs: „Wir führen keinen Krieg“, doch schon bald kreisten die Tornados der Luftwaffe über dem Balkan. Das Resultat ist bekannt, Madeleine Albright setzte ihre Politik durch, der Diktator Milošević wurde in seine Schranken gewiesen. Die Ergebnisse dieses Krieges bleiben bis heute umstritten.

In diesem Winter droht der Ampel-Koalition ein ähnliches Schicksal. Ohne dass dies in irgendeiner der deutschen TV-„Triell“-Nabelschauen oder gar bei Anne Will groß thematisiert wurde, hat uns die Ära Merkel nämlich NordStream2 und einen Krieg in der Ukraine hinterlassen. Durch den Aufmarsch russischer Truppen und die aggressive russische Rhetorik gegenüber Kiew hat sich der Konflikt 2021 massiv verschärft. Er könnte sich zur ersten großen Herausforderung der Regierung Scholz auswachsen. Sind Deutschland und Europa darauf vorbereitet?

Deutschlands Diplomatie tröstet sich seit Jahren damit, dass sie durch die Minsk-Verträge und das Normandie-Format den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine befriedet hätten. Tatsächlich handelt es sich jedoch bestenfalls um einen Waffenstillstand, der für keine der beiden Kriegsparteien trägt. Kiew kann und wird seine Souveränität nicht abtreten, Moskau verfolgt weiter revisionistischen Ambitionen gegenüber dem Nachbarn im Süden. Zwischen diesen beiden Positionen – eine auf dem Völkerrecht basierend, die andere grob aggressiv – lässt sich kein Kompromiss vermitteln. Kompromisse sind aber die Stärke deutscher Politik. Deshalb wurde seit 2015 das Ukraine-Problem von Angela Merkel und Heiko Maas vertagt. Ihr Einsatz für NordStream2 ging ungebremst weiter (Atom- und Kohleausstieg lassen keine andere Wahl), Deutschlands Abhängigkeit gegenüber Moskau wuchs. Wie bei Schröder galt deshalb unter Merkel (nur leicht abgewandelt): „Es gibt keinen Krieg in Europa.“

Die verdrängten Probleme im Osten werden die Ampel schnell einholen. Putin hat bereits im Sommer in einem Essay seine revisionistischen Absichten gegenüber der Ukraine erneut historisch begründet. Für ihn existiert sie nicht als legitimer Staat. Sein nächstes Argument war der Aufmarsch russischer Truppen. Damit steht Europa zum ersten Mal seit den Jugoslawienkriegen vor einem großen militärischen Konflikt. Damals war Deutschland gezwungen, Position zu beziehen. Dieses Mal wird es nicht anders sein.

Und bald an der estnischen Grenze?

Mit NordStream2 hinterlässt die scheidende Regierung dem neuen Kanzler ein schweres Erbe. Der Neustart der deutschen Politik beinhaltet jedoch auch Chancen: zu Beginn einer Kanzlerschaft fällt es sicherlich leichter, sich von altem Ballast zu trennen. Hat die Ampel den Mut zu einem Neustart deutscher Ostpolitik, der auch in Deutschland Kosten verursacht? 

Die Lage im Osten Europas ist ernst. Niemand weiß, ob Russland tatsächlich losschlägt. Die militärischen Kräfte dazu hat es längst an der Grenze zur Ukraine positioniert. In jedem Fall versucht der Kreml, Politik mit coercive demands zu machen. Wer heute nachgibt, wird morgen das Opfer weiterer Erpressungen werden. Ob das jedermann in Berlin bewusst ist, ist schwer zu sagen. Sicher werden laute Stimmen in Berlin einen Kompromiss mit Russland auf Kosten der Ukraine fordern. Wenn der Westen jedoch einknickt, dann wäre der Weg für Moskau zur nächsten Drohgebärde offen. Denn wie Chruschtschow zu Zeiten der Berlin-Krisen, versucht Putin den Westen einzuschüchtern. Damals gelang das nicht, weil die NATO standhaft blieb. Heute ist die Lage volatiler. Doch eins ist sicher: Wenn Putin in der Ukraine Erfolg hat, wer garantiert uns dann, dass Moskau nicht im nächsten Jahr mit 100.000 Mann an der estnischen Grenze steht?

Im Zuge dieses Winters hat die neue Bundesregierung die Chance, Merkels russlandpolitische Fehler zu korrigieren. Dazu gehört neben NordStream2 und der deutschen Energiepolitik auch das Normandie-Format. Zukünftige Verhandlungen mit Russland müssen die USA stets einbeziehen. Deutschland und Frankreich haben ihre Mittel erschöpft. Weitere russische Aggressionen sollten nicht nur wirtschaftliche Sanktionen, sondern auch militärische Hilfen des gesamten Westens für die Ukraine nach sich ziehen. Abschreckung und Eindämmung sind die stärksten Waffen, um den Frieden in Europa wiederherzustellen. Deutschland muss sich den Problemen im eurasischen Krisenbogen stellen, die Politik des Aussitzens und Verleugnens ist an ihr Ende gekommen. 

Die Ukrainekrise zeigt: Außenpolitische hat die Ampel keine Probezeit – der Ernst der Lage erlaubt es nicht.