„Spiegel“-Autor Markus Feldenkirchen hat Martin Schulz im Wahlkampf begleitet. Sein Buch „Die Schulz-Story“ schildert eine Partei und ihren Kandidaten in höchster Not. 

Ende Dezember trafen sich Markus Feldenkirchen, der Journalist, und Martin Schulz, der Politiker, in Köln. Schulz hoffte da noch, Außenminister zu werden und blickte auf das Jahr zurück, in das er als Hoffnungsträger der SPD gestartet war und das für ihn als Leiter der Verhandlungen für eine Neuauflage der Großen Koalition endete. „Ein Scheißjahr“, sagt Schulz, „Das beschissenste Jahr meiner politischen Karriere (…). Die Logik meiner ganzen Karriere wäre gewesen, Außenminister zu werden.“ Trotzdem habe er sich auf die schwere Mission der Kanzlerkandidatur eingelassen. Als er antrat, stand die Partei bei 20 oder 21 Prozent, als er Ende September ins Ziel kam, bei 20,5. „Aber mir wird das jetzt alleine zum Vorwurf gemacht“, beschwerte sich Schulz bei Feldenkirchen.

Heute redet niemand mehr von Schulz. Für die SPD waren die ersten Tage in der großen Koalition erfolgreich: Egal, ob Außenminister Heiko Maas, Finanzminister Olaf Scholz, Familienministerin Franziska Giffey oder Justizministerin Katarina Barley – sie alle sind gut in ihre neuen Ämter gestartet, sorgten für positive Schlagzeilen. Oder überraschten sogar damit, wie Maas, schon nach kurzer Zeit neue Akzente setzen zu können. Nach Monaten des Streits und des Chaos ist es der SPD gelungen, sich mit ihren Ministerinnen und Ministern als Truppe mit Zukunft zu präsentieren: Jung, entschlusskräftig und modern. Sogar in den meisten Umfragen geht es langsam aufwärts; davon, dass die Partei von der AfD überholt werden könnte, redet niemand mehr.

Karriereende auf der Hinterbank

Der Mann, dem die SPD das zu verdanken hat, der mit Chuzpe und Härte in den Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU für die 20,5-Prozent-Partei SPD ein sensationelles Ergebnis verhandelt hat, sitzt indes im Bundestag auf einem der hinteren Plätze und hat, außer seinem direkt gewonnen Mandat, kein Amt mehr: Martin Schulz ist am Ende seiner lange politischen Karriere angekommen. Ein Jahr dieser Karriere, das letzte und turbulenteste, begleitete ihn der Spiegel-Autor Markus Feldenkirchen.

Feldenkirchen wandte sich kurz nach der Nominierung Schulz‘ zum Kanzlerkandidaten und Parteichef an ihn und fragte nach, ob er den Kandidaten bis zum Ende des Bundestagswahlkampfes begleiten dürfe. Zur Überraschung Feldenkirchens sagte Schulz zu. Unter der Bedingung, dass Feldenkirchen erst nach Ende des Wahlkampfes berichten dürfe, gewährte ihm Schulz einen bislang in Deutschland einzigartigen Einblick in den Alltag eines Spitzenpolitikers: Feldenkirchen war nicht nur mit Schulz bei Wahlkampfterminen dabei, sondern durfte Auszüge seines Tagebuchs lesen, war bei strategischen Besprechungen mit Schulz Beratern dabei, erlebte den Kandidaten euphorisch nach gelungenen Reden und niedergeschlagen, wenn wieder einmal für ihn verheerende Umfragen veröffentlich wurden. Noch nie kam ein deutscher Journalist einem Politiker so nahe wie Feldenkirchen Schulz. Das Ergebnis war eine Woche nach der Wahl im Spiegel „Die Martin-Schulz-Story“ als 17-Seitige Reportage. Nun erschien die „Die Schulz-Story: Ein Jahr zwischen Höhenflug und Absturz“ als Buch mit über 300 Seiten.

Feldenkirchens Beobachtungen sind von Sympathie und Nähe zu Schulz geprägt. Er schätzt ihn wegen seine Offenheit, aber auch wegen seiner Intelligenz und Belesenheit. Schulz spricht fünf Sprachen und wenn er nervös ist, singt er französische Chansons oder rezitiert Gedichte und Balladen. Schulz ist, glaubt man Feldenkirchen, natürlich wie alle Politiker ein Machtmensch. Aber einer, der versucht, menschlich zu bleiben. Feldenkirchen beschreibt das ruhig und sachlich ohne jeden Kitsch. Schulz ist anders als die anderen, aber das gereicht ihm nicht zum Vorteil. Berlin ist ihm fremd. Er ist den eher kooperativen Politikstil Brüssels gewohnt, sachorientiert und weniger intrigant als in der Hauptstadt. Allerdings, auch das wird deutlich, hat Schulz keine Regierungserfahrung, ist es nicht gewohnt, zu führen und Verantwortung zu übernehmen. Damit passt er eigentlich gut ins Willy-Brandt-Haus, denn auch hier, das zeigt Feldenkirchen sehr präzise, wird über Politik mehr nachgedacht und geschrieben als dass sie gemacht wird. Unter Gabriel, dem chaotischen und spontanen Bauchpolitiker, wurde keiner der gescheiterten Wahlkämpfe aufgearbeitet.

„Igel vom Synchronschwimmen“

Und auf Schulz, den Gabriel zum Kanzlerkandidaten macht, um für sich zu retten, was noch zu retten ist, nämlich wenigstens ein Ministeramt in einer neuen Koalition, ist niemand vorbereitet. Gabriel, das war intern klar, wird Kanzlerkandidat. Schulz und sein Team, sie alle haben, schreibt Feldenkirchen, vom Kanzlerwahlkampf so viel Ahnung wie ein „Igel vom Synchronschwimmen“. Es beginnt eine chaotische Kampagne. Schulz schwankt, kommt mit dem Stakkato aus Umfragen und Presseartikeln nicht klar. Schnell verliert er seine Intuition. Berater für Berater wird engagiert. Dutzende Menschen, Pressesprecher, SPD-Abteilungsleiter und Kommunikationsexperten, arbeiten an seinen Reden, die immer glatter werden. Schulz lehnt sich dagegen auf, aber ihm gelingt es nicht einmal, in seinem engsten Kreis die Führung zu übernehmen. Schon als Kandidat ist er unsicher. Menschlich nachvollziehbar ist das, der Druck unter dem er steht ist ungeheuer, aber wenn man den Wahlkampf auch als Test versteht, den jeder zu bestehen hat, der ins Kanzleramt ziehen will, wird einem schnell klar: Er kann es nicht.

Schulz ist niemand, der eine Regierung führen kann. Feldenkirchen schreibt das an keiner Stelle. Denn die Frage, ob Schulz Kanzler wird, stellt sich für ihn nicht: Er hält es zu jedem Zeitpunkt für ausgeschlossen, dass er die Wahl gewinnt. Und das liegt nicht nur an Schulz, sondern auch an der SPD. Sie weiß nicht, wo sie inhaltlich steht, ist verliebt in die Debatte und den Streit, aber nicht in die Macht. Mit Verwunderung, Bewunderung und etwas entgeistert beschreibt er, wie noch wenige Wochen vor der Wahl über Formulierungen zur Flüchtlingspolitik diskutiert wird – und nicht nur darüber, wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Die SPD ringt um Inhalte, auf jedem Treffen, zu jedem Zeitpunkt. Das zeichnet die Partei aus.

Parallel gibt es natürlich auch die Machtkämpfe: Schulz leidet an seinem „Freund“ Gabriel, der als Außenminister rasch an Beliebtheit gewinnt und in den Medien Themen geschickter setzt als Schulz. Der wollte lange Zeit thematisch möglichst wenig von sich Preis geben und versuchte, seine inhaltliche Leere als Taktik zu verkaufen. Nur er selbst scheint daran geglaubt zu haben. Nachdem die drei verlorenen Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen den gehypten Schulz-Zug entgleisen ließen und niemand mehr vom „Gottkanzler“ sprach, brach Schulz innerlich zusammen. Auch dass Nahles und Scholz mit seinem Niedergang kalkulieren und sich für die Zeit nach ihm in Stellung bringen, macht ihn rasend. Aber eine Taktik dagegen kann er nicht entwickeln.

Rücksicht auf das runtergerockte Nordrhein-Westfalen

Feldenkirchen beschreibt einen zunehmend verzweifelten Kandidaten. Zu Recht sucht er die Schuld bei anderen: Im dümmlichen Bunte-Interview des schleswig-holsteinischen Wahlverlierers Torsten Albig (SPD) über die Trennung von seiner Frau etwa. Oder bei der Ministerpräsidentin des in „jeder Hinsicht runtergerocktem“ Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft (SPD), durch das Schulz ständig reist und in dessen vermüllten Raststätten er sein Wahlkampfstammessen Pommes-Currywurst isst und die ihm untersagte, im Landtagswahlkampf aufzutreten. Eine Kampagne zur Bildungspolitik startet er auch nicht, weil es den Blick auf das Versagen der Regierung-Kraft auf diesem Politikfeld lenken könnte.

Schulz folgte Kraft. Nach der NRW-Pleite wird ihm immer klarer, dass dies ein Fehler war. Er hadert: Mit sich, mit Kraft, aber auch mit seinen Beratern. Und dieses Hadern wird in den kommenden Monaten stärker werden. Immer deutlicher wird für alle Beteiligten, dass die SPD, dass Schulz auf eine Katastrophe zusteuern. Die Ansprüche sinken. Es geht bald nicht mehr um die Kanzlerschaft, sondern darum, ein besseres Ergebnis als bei der Bundestagswahl 2013 zu holen, als die SPD 25,7 Prozent erreichte. Am Ende ist das Ziel, nicht unter 20 Prozent zu rutschen – es wird nur knapp erreicht.

Zu den wenigen Augenblicken im Wahlkampf, in denen Schulz noch aufblüht, gehören die Reisen nach Frankreich und Italien. In Italien, lässt er Feldenkirchen wissen, sei er eine Art Volksheld, weil er im Europaparlament dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi 2003 die Stirn bot. Der machte Schulz in Italien und Deutschland bekannt, als er auf dessen Einwürfe mit dem Satz „In Italien wird gerade ein Film über die Nazi-Konzentrationslager gedreht, ich schlage Sie für die Rolle des Lagerchefs vor“ reagierte.

Feldenkirchen zeichnet das Bild eines Verlierers, der als Kanzlerkandidat und SPD-Parteivorsitzender in keinem Augenblick bei sich selbst ist. Eine tragische Fehlbesetzung, die am Ende scheitert. Bücher schreiben will Schulz, der Intellektuelle und Vielleser, in Zukunft. Eine gute Idee. Schulz ist, wenn er über Europa spricht, das Thema, das er sich von seinen Beratern währen des Wahlkampfes ausreden ließ, ein mitreißender und kluger Redner. Wenn er mit diesem Talent auch schreibt, wird sein Buch über Karl V. zwar kein Bestseller, aber  allemal lesenswert und interessant für alle, die sich für Geschichte begeistern. Kaiser Karl V. dankte ab, weil der die Kompromisse, die er als Katholik mit den Protestanten schließen musste, nicht ertragen konnte. Die Kompromisse, die der Katholik Schulz mit der Protestantin Angela Merkel schloss, konnte er ertragen – seine Partei nicht. Verzichtete Karl V. freiwillig auf die Krone, jagten seine Genossen Schulz am Ende vom Hof. Es kann ein spannendes Buch werden.