Angela Merkel scheute Debatten und den Dialog mit den Bürgern auch in Krisen und bei ihren vielen abrupten Kurswechseln. Das hat fatale Folgen für die Demokratie und die politische Kultur

Was wird von Angela Merkel bleiben? Wie hinterlässt sie das Land? Um zu verstehen, wie sie über all die Jahre bis zum Schluss ihre Politik betrieben und welche Folgen das hat, muss man auf ihre politischen Anfänge zurückschauen. In die große Politik und die CDU geriet Angela Merkel durch Zufall, wie sie selbst berichtet hat. Nach dem Aufbruch in der DDR und dem Fall der Mauer suchte die bis dahin völlig Unpolitische wie viele in dem untergehenden SED-Staat nach neuer Orientierung und Freiheit für sich als Wissenschaftlerin. Als sich aber später die Gelegenheit ergab, griff sie entschlossen und machtbewusst zu und erklomm so zunächst als erste Ostdeutsche und Frau den CDU-Vorsitz und dann als Dauerkanzlerin und Anführerin Europas und Stimme des freien Westens die Weltbühne, von der sie sich nun ohne Wehmut verabschiedet. 

In den Niederungen des politischen Alltags wie in den zahlreichen Krisen, die sie zu bewältigen hatte bis zu ihrer letzten, der Pandemie, und der ultimativen, dem Afghanistan-Fiasko, blieb sie stets die nüchterne, abwartende Pragmatikerin. Große Reden und Ideen waren ihre Sache nicht. Sie hielt sie für überflüssig. Nur die Ergebnisse und ihre Art, sich still aber effektiv Herausforderungen zu stellen und sie zu lösen, sollten für sie sprechen. „Sie kennen mich“ war bezeichnenderweise ihr Wahlmotto 2013. 

Das entspricht ihrer im tiefsten Inneren eher unpolitischen Einstellung, geprägt von ihrem Leben unter der Diktatur. Regierende sind nach ihrem Verständnis nicht dazu da, Ideale oder Gesellschaftsentwürfe die Tat umzusetzen, sondern der Freiheit der Bürger und der Wirtschaft den Weg zu bereiten und Bedrohungen von ihnen fernzuhalten. Als Prototyp einer postmodernen Politikerin und ihrem Wesen gemäß war und ist ihr politische Leidenschaft fremd, wie sie auch wieder bewies, als sie in einer Regierungserklärung im Bundestag zu den schrecklichen Ereignissen in Afghanistan und Kabul trocken, ohne Gefühlsregung und jedes Schuldeingeständnis das Scheitern des zwanzigjährigen Kriegseinsatzes konstatierte. 

Politik folgt aus ihrer naturwissenschaftliche Sicht quasi zwangsläufigen Mechanismen – und der Vernunft. Daher ihr verhängnisvolles Diktum einer „alternativlosen“ Politik, mit der sie ihre Entscheidungen zu immunisieren und Gegner einzulullen und zu demobilisieren trachtete. Nur einmal trat sie offensiv für eine politische Neuausrichtung ein: auf dem Leipziger Parteitag 2003 kämpfte sie für ein neoliberales Wirtschafts- und Sozialmodell mit einer Bierdeckel-Steuerreform. Als das Experiment bei der Wahl 2005 fast schief ging und sie nur mit Ach und Krach Kanzlerin wurde, zog sie daraus den Schluss, das Volk fürderhin nicht mehr mit grundgreifenden Debatten zu belästigen. 

Erblast AfD

Entgegen ihren Absichten beförderte sie damit aber erst recht eine scharfe gesellschaftliche Polarisierung. Denn wenn über weitreichende Weichenstellungen wie ein unkontrolliertes Öffnen der Grenzen, den Abschied von der Wehrpflicht, den schnellen Ausstieg aus der Atom- und nun auch Kohleenergie oder die Öffnung der Ehe für Homosexuelle – mit denen sie allesamt Grundpositonen der CDU und ihre eigenen bis dahin abräumte – nicht mehr in den Parteien und im Parlament gerungen wird, stärkt das die politischen Ränder. Mehr und mehr Bürger haben sich unter ihrer Ägide von den demokratischen Institutionen und den beiden ehedem großen Volksparteien abgewandt, weil sie sich von ihnen nicht mehr vertreten fühlen. Mit dem Ergebnis, dass im Bundestag und in den Landtagen eine starke rechtsextreme Partei sitzt, die die Demokratie infrage stellt. Dieses ihr Erbe wird bleiben, genauso das Verstummen des Diskurses in der Mitte, die die Gesellschaft trägt. Die Grünen, ihre stärksten Unterstützer, und das sie tragende Milieu setzen ihre Politik von oben mit ihrem „Klimaschutz oder die Apokalypse“ fort.

Politik ist jedoch auch unter den heutigen Bedingungen nie alternativlos, nie schwarz-weiß, gut oder böse, auch nicht in Krisen- und Pandemiezeiten und angesichts des Klimawandels und vielfältiger anderer Bedrohungen wie jetzt wieder in und aus Afghanistan. Demokratie lebt vom Streit der Parteien, der Regierung mit der Opposition und den gesellschaftlichen Akteuren um Ziele, Anliegen und Interessen. Und um Wege, sie zu erreichen. Das ist ihr integrativer Wesenskern, im Unterschied zu autokratischen Regimen. Um beides, Ziele und geeignete Instrumente, muss gestritten werden, um zu Kompromissen, im besten Fall einen Konsens zu gelangen, den möglichst viele mittragen. So hat die Flutkatastrophe zwar den Klimawandel wieder im Bewusstsein nach vorne geschoben, aber viele Bürger gerade aus schwächeren Schichten drücken neben internationalen Konflikten und Kriegen wie in der Ukraine oder in Europas Nachbarschaft in Syrien auch andere gravierende Sorgen: die Folgen der Coronakrise, die Mängel des Gesundheits- und Bildungssystems, hohe Mieten, miserable Digitalversorgung, die wachsende soziale Kluft, um nur einige zu nennen – auch das alles Hinterlassenschaften ihrer Regierungszeit. 

Werden solche Konflikte auch um politische Prioritäten nicht mehr ausgetragen, werden sie auf anderer Weise umso wirkmächtiger: im Rückzug von Bürgern, dem moralischen Aufladen und Erhitzen der Debatten und dem Reduzieren von Wahlkämpfen auf Charaktereigenschaften und Fehler der Kandidaten. 

Sie hat das Land liberalisiert

Mit ihren stillschweigenden Reformen der CDU und des Landes hat Merkel ohne Zweifel die Gesellschaft liberalisiert und geöffnet. Selbst für Konservative ist es heute keine Frage mehr, dass Frauen genauso wie Homosexuelle, Migranten und andere Minderheiten die gleichen Rechte haben. Das ist auch ihr nicht geringer Verdienst. Doch zu oft ist sie einfach nur einem tatsächlichen oder vermeintlichen Wandel von Stimmungslagen gefolgt, ohne selbst für eine Richtung einzutreten. Nur einmal, in der Coronakrise, sprach sie in einer Fernsehansprache direkt zum Volk und warb um Zustimmung für ihren restriktiven Kurs. Am Ende ihrer langen Kanzlerschaft steht die Gesellschaft tief gespalten da wie seit den Zeiten des Kalten Kriegs nicht mehr. Mehr noch: Die einzelnen Gruppen reden kaum mehr miteinander, nur noch in ihren jeweiligen Zirkeln und Blasen. Die Gesellschaft zerfranst in Parzellen, der soziale Zusammenhalt bröckelt. Das alles ist nicht allein, aber auch ihre Schuld und Verantwortung.

Merkel entschwebte derweil ins Präsidiale. Es müsse mehr getan werden für den Klimaschutz, verkündete sie kurz vor ihrem Ausscheiden angesichts der Flutkatastrophe. Wieso hat sie das in den 16 Jahren ihrer Regentschaft nicht konsequent getan und Mehrheiten dafür organisiert? „Wir schaffen das“, gab sie sich auf dem Höhepunkt der von ihr mitausgelösten Flüchtlingskrise überzeugt. Was hat sie selbst dazu beigetragen? Der „Kampf gegen Rechts“ gehört auch zu ihrem Standardrepertoire. Aber hat sie die Rechten nicht eher gefördert? 

Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin übernehmen von ihr gewaltige Baustellen: die Energiewende, ein Torso; die Integration der mehr als eine Million Zuwanderer seit 2015; Schutz vor den Folgen des Klimawandels und künftigen Pandemien; Erhalt der auch von ihr gespaltenen Europäischen Union und des gesellschaftlichen Friedens. Vor allem aber eine Öffentlichkeit, die nach offenen Debatten über all das dürstet – nach dem ewigen Merkel-Schweigen.