"Islam ist Frieden"
Der Terror des 11. September brachte erst den Schock, sofort danach die Affekte. Heute hat unser Autor, der in New York lebt, einiger seiner Überzeugungen in die Tonne getreten, andere hingegen gefestigt.
- Ich glaube immer noch, dass die ersten Gefühle an diesem Tag die richtigen waren. Die ersten Gefühle waren: Schock, Traurigkeit, hilfloser Zorn.
- Was ich vor allem anderen nie vergessen werde: die Paare, die sich an den Händen hielten und in die Tiefe sprangen, hinter sich die Flammen, vor sich den Abgrund.
- Ich war an diesem Tag nicht in New York. Ich war in Berlin, arbeitete damals noch als Redakteur für die „Literarische Welt“. Mein Chef Elmar Krekeler hatte eine lustige Ausgabe geplant: Der Aufmacher sollte ein geistreicher Artikel von Robert Gernhardt über Fehler in Gedichten großer Lyriker sein. Auch der Rest der Ausgabe sollte sich leichten Themen widmen. Nachdem das erste Flugzeug in den ersten Turm gekracht war, sahen Elmar und ich uns an. Er sagte: „Wir müssen den Aufmacher austauschen.“ Nachdem das zweite Flugzeug in den zweiten Turm geflogen war, schauten wir uns noch einmal an. Ich sagte: „Wir können die ganze Ausgabe in die Tonne treten.“ Wir haben dann innerhalb von 48 Stunden eine neue Ausgabe der „Literarischen Welt“ aus dem Hut gezaubert. Mit einem Aufmacher von Wolf Biermann, einem Interview mit dem Militärhistoriker Martin van Creveld, einem Essay der israelischen Krimiautorin Batya Gur.
Ich erinnere mich, wie ich an diesem Abend um zehn Uhr nach Hause torkelte. Die Seele wie zerschlagen. Ich wohnte damals in Prenzlauer Berg. Plötzlich überkam mich eine tiefe, quasi metaphysische Sehnsucht nach einer Gulaschsuppe, also ging ich in eine Kneipe. Am Nebentisch schrie ein Typ in sein Handy: „Daran ist doch nur dieser Netanjahu schuld! Dieser Bush und die ganze Bande, die Israelis, die glauben jetzt, sie können sich alles erlauben!“ Er war kein Araber, sondern ein blonder Kartoffeldeutscher. Im Fernseher hoch an der Wand lief unterdessen der Terroranschlag als Dauerschleife. Dazu kluge Gesichter, die uns Zuschauern die Welt erklärten. Just an diesem Abend gab es irgendein Fußballspiel. Die Hälfte der Leute in der Kneipe wanderte ins Nebenzimmer ab, wo ein Riesenbildschirm auf sie wartete, kehrte den Nachrichten demonstrativ den Rücken zu. Die Menge schrie begeistert über irgendwelche Bälle, die in irgendwelchen Toren landeten. Mir war der Appetit vergangen. - Ich war für den Krieg in Afghanistan.
- Ich war für den Krieg im Irak.
- Vielleicht war beides falsch. Wahrscheinlich war beides falsch. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Lust mehr, recht zu haben.
- Eine Zeitlang war ich nach dem Massaker vom 11. September islamophob. Im buchstäblichen Sinn dieses Wortes – ich hatte Angst vor dem Islam; meine Wut ließ keine Ausnahmen zu. Präsident George W. Bush hat gleich nach dem Anschlag eine Rede gehalten, in der er vor der Islamophobie warnte. Er sagte, es sei unamerikanisch, seine Wut jetzt an x-beliebigen Muslimen auszulassen. Das erste, was Bush nach dem 11. September tat: Er zog seine Schuhe aus und besuchte eine Moschee. Das fand ich damals doof und naiv. Heute nicht mehr.
Eigentlich hat mich Amerika von meiner Islamophobie kuriert. Kann sein, dass ich sie verlor, als ich in St. Louis, Missouri, bosnischen Überlebenden des serbischen Genozids begegnete, die den amerikanischen Traum lebten: Häuschen, Knochenjob, Kinder auf dem College. Spätestens war es mit meiner Islamophobie vorbei, als ich für eine Reportage das Islamic Cultural Center am Riverside Drive besuchte. Es war früher Morgen, viele verrichteten das Fajr-Gebet. Unter den Betenden ein schwarzer Polizist in Uniform. Hinterher sah er mich in Socken am Eingang stehen, steuerte auf mich zu, umarmte mich Wildfremden: „Welcome, bro.“ - Vielleicht wäre ich ohne den Anschlag am 11. September nicht in die Vereinigten Staaten ausgewandert.
- Von außen sieht Amerika anders aus als von innen. Von außen: Flugzeugträger, Popmusik, Hollywoodfilme. Pipelines, aus denen endlos Dollars fließen. Von innen: Fabergé-Ei.
- Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Vielleicht erleben wir gerade das Ende des amerikanischen Zeitalters. Ich glaube eigentlich eher nicht. Auf jeden Fall glaube ich aber, dass die ersten Gefühle an diesem schwarzen Tag vor 20 Jahren die richtigen waren: Entsetzen, Trauer, hilfloser Zorn.
Lesen Sie auch „The Antiamerican Dream“ von Jan-Philipp Hein