Im neuen Roman von Jochen Schimmang gibt es für den Leser nicht eben wenig zu entdecken. Dabei kommt er ganz unspektakulär daher.

Das Erinnern ist ein Wesenszug der Melancholie. Vielleicht ist es die einzige Art, das Vergehen der Zeit erfahrbar zu machen. Denn die Gegenwart ist ja immer schon wieder gleich vorbei. Der Schriftsteller Jochen Schimmang hat mit seinem Debüt Der schöne Vogel Phönix vor bald vierzig Jahren einen Roman geschrieben, den er im Untertitel „Erinnerungen eines Dreißigjährigen“ nannte. Das war schon damals ungewöhnlich, und ist es auch heute noch, obwohl wir in einer Zeit leben, in der Popsternchen schon mit Mitte zwanzig Autobiographien vorlegen und „Erinnerungen“ ansonsten Staatsmännern am Ende ihrer politischen Laufbahn vorbehalten sind . Was hatte dieser Mann erlebt, dass es in einen Roman gebrachte Erinnerungen wert war? Er ist in der Provinz aufgewachsen, hat Wehrdienst geleistet, ist zum Studieren nach Berlin gegangen, hat sich politisch engagiert und versucht, sich selbst und seinen Platz in der Welt zu finden. Es ist das, was man heute eine „Coming of Age“-Geschichte nennen würde. Tatsächlich hat sich dieser Roman etwas allzeit Aktuelles erhalten, und so war es nur plausibel, dass er vor ein paar Jahren wieder aufgelegt wurde. Der Grundton des Buchs ist ein melancholischer, was den Sätzen eine wunderbare, authentische Färbung gibt und dem Leser gleich deutlich macht, dass es ein Buch des Abschieds und der Enttäuschung ist: des Abschieds von der Jugend und der politischen Desillusionierung, denn der Protagonist kommt nach Berlin, als der gesellschaftliche Urknall der 68er vorbei ist und sich die kalten Planeten sektiererischer linker Ideologie breitmachen – er hat also den eigentlichen Aufbruch verpasst. Der Erzähler selbst wird Mitglied einer der sogenannten „K-Gruppen“, findet aber nach wenigen Jahren auch wieder den Ausstieg. Zurück bleibt die schmerzliche Erinnerung an einen Möglichkeitsraum, der jede Jugend ist, weil das Leben ja noch vor einem liegt, die Zeit als ein unerschöpfliches Deputat und der Horizont noch weit erscheint. Doch Schimmangs Roman von 1979 ist auch die zärtliche und vorsichtige Ausformulierung einer ganz persönlichen Utopie.

XANADU AM NIEDERRHEIN

Und damit sind wir bei seinem neuesten Buch: Altes Zollhaus, Staatsgrenze West. Es schließt vordergründig an zwei andere seiner Bücher aus den letzten Jahren an: Das Beste, was wir hatten und Grenzen Ränder Niemandsländer. Und doch ist es mehr: Es beendet die Suche, die mit dem Phönix begonnen hatte, als Schimmang als junger Mensch dem Aufruhr zumindest noch nahe sein wollte. Gregor Korff, Ministerberater a.D. aus dem halben Spionageroman Das Beste, was wir hatten, lebt nun am Rande der Republik, ganz weit im Westen (westlicher geht es fast nicht mehr), an der heute offenen Grenze zu Holland. Sein bescheidenes Xanadu ist das alte Zollhaus, in dem er Gäste empfängt und wo er über das Leben und philosophische Irrtümer sinniert.

Tatsächlich, sehr viel mehr passiert in diesem Roman nicht – aber das auf eine sehr angenehme Art, in einer gelassenen, präzisen Sprache, mild gewürzt mit Ironie und Humor, die einen immer weiter trägt über die Seiten. Letztlich verbinden sich in diesem Buch die Lebenslinien des Autors, auch wenn man Adorno beipflichten will, wenn er feststellt: „Das Leben der Bücher ist nicht identisch mit dem Subjekt, das wähnt, es gebiete darüber.“ Das gilt ja für den Autor wie den Leser, beide sollten das beherzigen. Aber der Autor Schimmang scheint als Homme de Lettres durch viele seiner Protagonisten hindurch, und das Erfinden von handlungsstarken Charakteren war auch nie seine Stärke. (Nur in seinem Erzählband Das Vergnügen der Könige erlebte man ihn ein wenig anders, und dieses Buch bildet entsprechend auch den Markstein eines Wegs, den er nicht gegangen ist – leider, könnte man sagen, denn das Buch gehört zu seinen stärksten und hätte mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt.) Im neuen Roman wird jetzt deutlich, was den Autor über die Jahrzehnte antrieb: nämlich die Ausbildung von drei persönlichen Utopien (andere würden es vielleicht Passionen nennen).

VON DEN DREI UTOPIEN

Da ist zunächst einmal die Vermessung einer Idylle, die nur an den Rändern des Politischen existieren sein kann, das ist der Ort des Beobachters, der dem Getümmel der Geschichte aus dem Weg geht, weil er ihm nicht traut, weil die Revolutionen zu oft das Gegenteil von dem hervorbringen, was sie ursprünglich beabsichtigten, und die Ideologien letztlich nur Leichenfelder. Während Korff sich über Jahre im Auge des Orkans befand – einem nur vermeintlich ruhigen Ort –, setzt der Autor ihn nun in einen Grenzbezirk, der von Flüchtlingsströmen und Globalisierung nichts weiß – der quasi von der Geschichte verschont wird. Es ist ein privates Posthistoire des Alterns, ein Abseits als sicherer Ort, in dem Benjamins Engel der Geschichte als Nachtmahr auftritt. Das Unheil kommt vom Tätigsein. Wäre es also nicht besser, man bliebe bei sich, in seinen vier Wänden? Blaise Pascal war sich jedenfalls sicher, das Unglück komme daher, dass der Mensch nicht ruhig in seinem Zimmer sein kann. Im alten Zollhaus wird die Gegenprobe – zumindest – versucht.

Die zweite Utopie ist die der Freundschaft, ja, die der Wahlverwandtschaft. Korff, obwohl eigentlich der Einsamkeit nicht abgeneigt, sucht die Freundschaft von Menschen immer wieder, ist schnell begeistert von kleinen Details, Fähigkeiten und Worten, mit denen Bekanntschaften, Nachbarn, alte Freunde aufwarten. Es hat etwas Rührendes, wie er berührt wird von anderen Menschen, und der Autor gibt sich Mühe, genau diese kleinen Dinge und Momente glaubhaft und nachvollziehbar zu machen. Es gelingt nicht immer, obwohl ihre Bedeutung sich durch den ganzen Roman zieht. Aber es wird deutlich, dass nur mit Seelen- und Wahlverwandten eine ideale Gesellschaft möglich sei.

Die dritte Utopie ist die Kunst selbst. Sie ist überall mit Verweisen präsent – und wenn wir noch in der Epoche der Postmoderne festsäßen, so würde manch einer den Roman „intertextuell“ nennen. Aber man täte ihm da einen Tort an, denn das Zitieren ist kein laues Konstruktionsprinzip dieser Prosa, es ist auch keine eitle Wissensschau, vielmehr zeigt sie den omnipräsenten Bestand an Bildern, Gedanken und Ideen, der Sicherheit gibt bei der Erklärung und Schaffung der Welt als ein Kunststück, einen Traum – in dem auch kraft schöpferischer Potenz ein Dorf am Niederrhein in den Mittelpunkt der Welt verwandelt werden kann.

Und so fühlt sich dieser Roman an nicht wenigen Stellen wie die Quintessenz eines langen Lebenswerkes an. Jochen Schimmang hätte nach so vielen Büchern ja auch allen Grund zurückzublicken, seine Themen, Motive und Obsessionen zusammenzufügen in einem Schwanengesang. Doch als der Leser sich diese Interpretation auch schon dingfest zurechtlegt, da lässt der Autor seinen Korff einem jungen Pärchen, neuen Wahlverwandten, hinterherreisen. Und als er an ihrer Tür klopft, fühlt es sich wie ein neuer Aufbruch an – ganz anders und schließlich doch wie vierzig Jahre zuvor in Westberlin.

Jochen Schimmang: Altes Zollhaus, Staatsgrenze West. Edition Nautilus, Hamburg 2017, 192 Seiten, 19,90 Euro